Dienstag, 26. Februar 2013

Zeitbilder 1840 - 1850


Die Zeit des „friedlichen Wühlen’s“ war vorbei, als Theodor Althaus durch das Kreuzgitter seiner Zelle im „Staatsgefängniß vor dem Cleverthor“ in Hannover zuschaute, wie der Rauch seiner Zigarre „in hübschen blauen Wölkchen hinaus in die Freiheit“ wirbelte. Er befinde sich nun, wie es einem guten Patrioten anstehe, genau in demselben Zustande wie sein Vaterland, in einer „provisorischen Gefangenschaft“, schrieb er am 17. Mai 1849 den besorgten Eltern und Geschwistern nach Detmold.

In seinem demokratischen Verständnis stellte sich die Frage: Wer war in diesem Lande legitimiert, ihn wegen Staatsverrats anzuklagen? Doch nicht diejenigen, die seine Verhaftung verfügt hatten, hatte er doch nichts anderes getan als die in mühsamem Ringen um Meinungen und Mehrheiten verabschiedete Verfassung einzufordern. Dass die „provisorischen“ Ankläger über die nötigen Machtmittel verfügten, ihn gefangen zu halten, betrachtete er als sein Schicksal. „Ich fühle mich hier dem Zufall und der Gewalt gegenüber.“, notierte er im seinem Tagebuch.
Alles hatte er gegeben, um an der Zukunft eines demokratischen deutschen Staates auf der Grundlage von Volkssouveränität und Pressefreiheit mitzuarbeiten. Wenn ihm dennoch in seinem geliebten Land kein Standort in Freiheit beschieden war, blieb ihm nichts anderes übrig als die Gefangenschaft anzunehmen. Er nutzte die Zeit, sich selbst wieder zu finden und seine Gedanken aufzuschreiben. Mit der im Jahre 1850 in Bremen erschienenen Schrift „Aus dem Gefängniß. Deutsche Erinnerungen und Ideale“ übergibt er der Nachwelt einen eindrucksvollen Bericht über seinen eigenen und den Zustand des „armen, armen Vaterlandes“.
Trotz unermüdlichen Schaffens als Prediger, Rezensent, Journalist und Autor zahlreicher Schriften, Erzählungen und Gedichten gelang es Theodor Althaus offensichtlich nicht, über die Kreise von Gleichgesinnten hinaus bekannt zu werden, wie Georg Herwegh mit seinem  Zyklus „Gedichte eines Lebendigen“ oder Julius Fröbel mit der Schrift „System der socialen Politik“. Jedoch ist es bemerkenswert, dass die Zensurbehörden bereits durch eine seiner ersten Publikationen auf ihn aufmerksam wurden, als er im Hungerjahr 1846 angesichts der Diskrepanz zwischen einer faszinierenden Landschaft, auf deren fruchtbarem Boden es eigentlich Brot für alle geben müsste, und der Kluft zwischen wenigen Besitzenden und bitterer Armut eines Großteils der Bevölkerung zu dem Schluss kam, Geld sollte man besser im Rhein versenken. Seine „Rheinfahrt im August“ wurde gleich nach dem Erscheinen verboten. Bereits ein Jahr zuvor hatte er sich mit seinem Artikel im Sonntagsblatt der Weserzeitung „Detmold am Jubeltag des Fürsten“ in das gesellschaftliche Abseits der lippeschen Residenz manöwriert.
Selbst wenn ihm scharfer Wind ins Gesicht blies, ließ er von Überzeugungen nicht ab. Schon als Student distanzierte er sich von den Bonner Kommilitonen, die um des eigenen Vorteils willen gegenüber den Professoren Zustimmung heuchelten, während er über Prinzipien wie Volkssouveränität und Pressefreiheit längst nicht mehr diskutierte, sondern „gleich derb“ zu werden pflegte. Beispielhaft für seine Haltung mag die Auseinandersetzung im theologischen Seminar sein, bei der er trotz heftiger Konflikte mit Professor Nitzsch, dem der Inhalt seiner Examenspredigt („Der Werth eines öffentlichen Wirkens für das Gute“) zu wenig christlich erschien, nicht einen Schritt zurückwich. Dass er trotzdem ein glänzendes Examen ablegte, zeigt nur, dass wir es mit einem hochintelligenten, hellwachen jungen Mann zu tun haben.
Selbstbewusst hielt er im darauf folgenden Monat die umstrittene Predigt in der Detmolder Stadtkirche. Mit seiner Vorstellung auf der Kanzel im April 1843 ließ er eine junge Frau aufhorchen, die sich ebenfalls nicht gedankenlos anpassen wollte und andere Perspektiven für ein Frauenleben suchte als in der aristokratischen Gesellschaft ihrer Zeit für sie vorgesehen waren. Malwida von Meysenbug wurde von der Kühnheit des Auftretens und der ungewöhnlichen Frische seiner Gedanken nachhaltig beeinflusst. Sie erinnert sich in ihren Memoiren:
"...Eines Tages sagte man mir, dass der älteste Sohn meines Religionslehrers, der sich gerade während der Universitätsferien zu Haus befände, am folgenden Sonntag in der Kirche predigen würde, da er Theolog sei wie sein Vater. Ich ging zur Kirche, um zu sehen, was aus dem blassen stillen Knaben, den ich einst im Zimmer seiner Mutter hatte arbeiten sehen, geworden sei. Nach dem Gesang der Gemeinde, welcher der Predigt vorausgeht, stieg ein junger Mann, in schwarzem Talare, auf die Kanzel, beugte das Haupt und verblieb einige Minuten in stillem Gebet. Ich hatte Zeit ihn anzusehen. Er war gross wie sein Vater, aber sein Kopf hatte einen Typus, der in jenen Gegenden, wo er geboren war nicht häufig ist. Sein Gesicht war bleich mit scharf geschnittenen, edlen Zügen, wie man sie bei den südlichen Rassen findet. Lange und dichte schwarze Haare fielen ihm bis auf die Schultern; seine Stirn war die der Denker, der Märtyrer. Als er zu sprechen begann, wurde ich sympathisch berührt durch den Klang seiner tiefen, sonoren und doch angenehmen Stimme. Bald aber vergass ich alles andere über den Inhalt seiner Predigt. Das war nicht mehr die sentimentale Moral, noch die steife kalte Unbestimmtheit der protestantischen Orthodoxie, wie beim Vater. das war ein jugendlicher Bergstrom, der daherbrauste voller Poesie und neuer belebender Gedanken. Das war die reine Flamme einer ganz idealen Seele, gepaart mit der Stärke einer mächtigen Intelligenz, die der schärfsten Kritik fähig war. Das war ein junger Herder, welcher, indem er das Evangelium predigte, die höchsten philosophischen Ideen zur Geschichte der Menschheit entwickelte. Ich war auf das tiefste und glücklichste bewegt..."
Auch der Großvater, Bischof Dräseke, zeigt sich vom Inhalt der Predigt tief beeindruckt, wenn er von „Genialität der Textauffassung“, „Schriftmäßigkeit des Inhalts“ und „Durchsichtigkeit des Gedankens“ schreibt. Sein Brief an den Enkel ist zudem ein Indiz dafür, dass Theodor Althaus bei allem, was er tat, in seiner Familie bedingungslos Rückhalt fand.
Als engagierter Theologe setzte sich der junge Prediger intensiv mit den Praktiken der beiden großen Religionsgemeinschaften auseinander und erkannte schon bald, dass er in keiner ein religiöses Wirken nach seinen Vorstellungen verwirklichen konnte. Was nützten den Menschen kirchliche Rituale und die vermeintliche Aussicht auf Erlösung nach dem Tod, wenn sie auf der Erde in Elend und Not lebten? Diese Gedanken sah er nicht vordergründig politisch, vielmehr rückblickend auf das Urchristentum, als Streben nach einem gerechten Miteinander in Freiheit und Liebe. Das war für ihn nur möglich, wenn alle ein menschenwürdiges Leben hatten, ein Ansatz, der ihm häufig von ignoranten Kritikern den Vorwurf bescherte, ein „Rother“ zu sein.
Im vormärzlichen Leipzig war der junge Intellektuelle aus Detmold dann unter Gleichgesinnten. Er knüpfte Kontakte zu Mayer, Ruge, Wigand und Robert Blum, traf Julius Fröbel, Hebbel und die österreichischen Literaten Mautner, Hartmann, Meißner und Kuranda. Der rege Literaturbetrieb der Stadt ermöglichte ihm, dass er „ganz anständig sein Brod verdienen“ konnte durch eine Vielzahl von Aufträgen. Er schrieb Rezensionen, Übersetzungen, Beiträge zu Publikationen sowie Presseartikel, die auch in den liberalen Organen in Köln, Augsburg und Bremen gedruckt wurden.
Wie für alle, die auf einen baldigen Umschwung in Deutschland hofften, begann auch für Theodor Althaus das Jahr 1848 mit einer Kette von Ereignissen, die in einen nie gekannten Freudentaumel mündeten, die Lichter von Palermo am 12. Januar und die Sturmglocken von Notre Dame am 24. Februar. Doch spätestens das Drama des 18. März 1848 in Berlin brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Anblick der Märzgefallenen, die seidenen Trauerfahnen in schwarzrotgold und „die anarchische Schwüle über Berlin“ mussten in dem sensiblen jungen Mann tiefe Spuren hinterlassen, wurde ihm doch drastisch vor Augen geführt, wie rücksichtslos die Machthabenden gegen Andersdenkende vorgingen. Elisabeth Althaus erinnert sich, wie sie ihren Bruder am Abend nach dem Gang durch die Stadt erlebte: "…Er war, von äußerster Erschöpfung getrieben, schon zu Bette gegangen. Ich setzte mich zu ihm und sah nun erst, wie verändert, wie von Erregung und Schmerz durchwühlt, seine Züge waren. Noch sehe ich seinen Kopf mit den schwarzen Locken auf dem weißen Kissen liegen und in der allmälig kommenden Ruhe eine Verklärung, aber wie eine Verklärung des Todes, sich über seine Züge breiten. Er erzählte von den Gefallenen, die in den Kirchen ausgestellt waren, damit die Angehörigen sie finden und erkennen könnten. 'O', rief er aus, 'diese feste, stille Siegesgewißheit auf den jungen Gesichtern - und dann die Wunden, die tödtlichen Wunden!'"
Die Faszination der Aufbruchstimmung auf Straßen, Plätzen und Bahnhöfen im ganzen Land konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, wie lang und steinig der Weg in die Freiheit noch werden würde. Nur in besonnenem Handeln sah er eine Chance das Ziel zu erreichen und beobachtete mit Sorge ungeduldige Poltergeister, die alles von heute auf morgen herumreißen wollten und durch übereilte Aktionen leichtfertig politisches Kapital verschenkten.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er vom Strudel der auf- und abwogenden Entwicklungen mitgerissen wurde und im Laufe des Jahres 1848 in ein unvorstellbares Dilemma schlitterte. Die Misere begann mit dem misslungenen Bemühen um ein Mandat im Frankfurter Parlament, setzte sich fort im Scheitern einer Zusammenarbeit mit der „Weserzeitung“ und endete im Desaster um seine Leitartikel zu Eckernförde und dem Mord an Auerswald und Lichnowski, was zum Zusammenbruch der von ihm redigierten „Bremer Zeitung“ führte. Mit der Gründung der „Zeitung für Norddeutschland“ in Hannover bekam er noch eine Chance, bemerkte aber nicht, wie er immer weiter in die Mühlen seiner Gegenspieler hineingeriet, die dann auch bei nächster Gelegenheit zuschlugen, etwas mehr als ein Jahr nach den strahlenden Märztagen im Frankfurter Frühling und fast zeitgleich mit dem Scheitern der Nationalversammlung.
Wie konnte es so weit kommen? Wollte er ein Märtyrer sein? War ihm entgangen, wie stark die Reaktion inzwischen wieder geworden war? Warum hatte er nicht bemerkt, wie sich das Unwetter über ihm zusammenbraute? In seinem Resümee, formuliert er selbst in dem Zusammenhang das Stichwort „Anarchie der Seelenkräfte“. Zweifelhaft, ob er sich mit dieser Erklärung zufrieden geben konnte. Vielleicht dachte er auch darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, nach dem Prinzip der Besonnenheit hin und wieder einen Schritt langsamer zu gehen. Vorstellbar, doch wir wissen es nicht.
Die Entlassung aus dem Staatsgefängnis Hildesheim am 15. Mai 1850 überlebte er um knapp zwei Jahre. Er konnte seine vor- und nachmärzliche Schaffensphase nicht fortsetzen, schon allein, weil die seit Jahren schleichende Krankheit erbarmungslos Macht über seinen Körper gewann. Das hoffnungsvolle Talent wurde nicht einmal dreißig Jahre alt.
Auf den Spuren von Theodor Althaus in seiner Heimatstadt finden wir das Geburtshaus in der Bruchstraße 2, das Pfarrhaus unter der Wehme sowie die Marktkirche mit der Kanzel, auf der er im Jahre 1843 seine bemerkenswerte Predigt gehalten hatte. Im Vergleich zu Ferdinand Freiligrath und dem im gleichen Jahr geborenen Georg Weerth ist er in Detmold weitgehend unbekannt.
Mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod zeichnet sein jüngerer Bruder Friedrich Althaus ein detailliertes Portrait in "Theodor Althaus. Ein Lebensbild". Auf der Basis eigener Erinnerungen sowie Theodors Schriften, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, wie auch des Tagebuchs und Jugenderinnerungen der Schwester Elisabeth Althaus (später Lewald) dokumentiert er in liebevoller Zuneigung diese „verheißungsvolle, tragisch schöne Laufbahn…“ und setzt dem geliebten Bruder ein biographisches Denkmal.
"Ob es der Mühe wert war, die Gestalt des früh geschiedenen Th. Althaus...aus dem Schatten hervorzuholen...Sein weit vorausgreifender Geist berührt uns  jedenfalls seltsam nah.", schreibt Dora Wegele im Vorwort zu ihrem im Jahre 1927 erschienenen Werk "Theodor Althaus und Malwida von Meysenbug. Zwei Gestalten des Vormärz".
Es kostet zwar anfangs (aber nur anfangs!) Mühe, die zum Teil weit ausschweifenden Phantasien und Gedanken in den Texten von Theodor Althaus nachzuvollziehen und zu verstehen, aber der Leser wird hineingezogen in einen facettenreichen Bilderreigen aus dem turbulenten Jahrzehnt von 1840 bis 1850. Da sitzt der rehabilitierte Bonner Professor Arndt am grünen Tisch und begrüßt die neuen Studenten, in Berlin droht ein Fackelzug für die Brüder Grimm im Netz der preußischen Polizei und später im Schnee zu versinken, Hoffmann von Fallersleben gibt in einer Kneipe politische Lieder nach dem Motto „Deutschland ohne Lumpenhunde“ zum Besten und wird aus der Stadt ausgewiesen. Der Autor führt uns auf die sonntägliche Promenade einer kleinen deutschen Residenz und „Ein Idyll“ auf der Grotenburg weckt unwillkürlich Gedanken an die Bergpredigt aus dem neuen Testament. Die schöne Tänzerin Lola Montez liegt vor den faszinierten Blicken des alternden bayrischen Königs auf dem Diwan und „klätschelt“ mit ihrer kleinen Reitpeitsche ihr rechtes Bein. Mal grob-, mal feingemalt sehen wir Heines Tendenzbären „Atta Troll“ auf dem Marktplatz von Cauterets und in seiner Höhle in den pyrenäischen Bergen. Dabei versäumt der Autor es nicht, mit spitzer Feder die Blicke unter glatte Oberflächen zu lenken. So begleiten wir einsame Wanderer mit ihren Erinnerungen, Träumen und Alpträumen in ihre „Profeteneinsamkeit“, erleben mit, wie sie sich von den Erscheinungen der sie umgebenden Natur überwältigt fühlen wie von einem unfassbaren Weltgeist und sind am Ende mit der hoffnungslosen Misere in den Hütten konfrontiert. Schließlich erleben wir einen angeschlagenen Rebellen hinter vergitterten Fenstern, der über die Gründe des Scheiterns nachdenkt. Die seit Jahrzehnten angesammelte revolutionäre Kraft war in seinen Augen nicht nur deshalb verpufft, weil die Reaktion so rasch wieder erstarkt war, sondern auch, weil niemand der herausragenden Männer es geschafft hatte, in Frankfurt die progressiven Bestrebungen zu bündeln. Blum war in Wien zum Märtyrer geworden, Kinkels Energien waren durch berufliche Querelen im Zusammenhang mit seiner Heirat zu sehr gebunden, Gagern hatte die Badener Aufständischen im Stich gelassen und somit die gemeinsame Sache verraten. Für Theodor Althaus wäre sein Freund Julius Fröbel der richtige Mann gewesen, doch das hatten wohl die meisten zu spät erkannt.
Seinen Traum von einem Leben in Freiheit und Liebe konnte der junge Stürmer aus Detmold nicht mehr verwirklichen. Mit seinen Schriften, Briefen, Erzählungen und Gedichten hinterlässt er die Ergebnisse seines umfangreichen Schaffens, die weit größere Beachtung verdient haben als ihnen bisher zuteil wurde. Die Berichte und Gedanken von Theodor Althaus wirken noch immer erstaunlich frisch, seine Botschaften und Visionen haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.
Renate Hupfeld

Vorwort aus: Theodor Althaus, Zeitbilder 1840 -1850 und erhältlich im Aisthesis Verlag Bielefeld



Montag, 25. Februar 2013

1846 - 1850 Rheinfahrt im August



Der August des Jahres 1846 bescherte wunderbare Sommertage. Der fast vierundzwanzigjährige Theodor Althaus hatte sein Studium in Bonn, Jena und Berlin beendet, hatte jedoch auf Grund seiner politischen und religiösen Überzeugungen keine Chance auf eine Anstellung. Ihm blieb die Sprache in Predigten, Vorträgen und dem geschriebenen Wort. Für seine längere Schrift „Die Zukunft des Christenthums“, in der er seine progressiven religiösen Vorstellungen ausführlich darstellte, hatte er einen Verleger gefunden. Und nach Wanderungen im Harz und an der Weser zog es ihn an den Rhein, seinerzeit wichtiges Symbol der deutschen Freiheitsbewegung.  Gerne erinnerte sich Althaus an seine Studienzeit an der Bonner Friedrich Wilhelms Universität, an Weinfelder, das Siebengebirge, Burg Rheinstein hoch über der Flusswindung, den schroffen Loreleyfelsen, die glitzernden Wellen am Ufer und an den Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten, die dasselbe Ziel verfolgten wie er: ein einheitliches demokratisches Deutschland, in dem es allen Menschen gut ging, nicht nur den Königen und Fürsten.
In Köln traf er Levin Schücking und Karl-Heinrich Brüggemann von der „Kölnischen Zeitung“, Levin Schücking und ein paar Kilometer rheinaufwärts seinen Bonner Dozenten Gottfried Kinkel,  mit dem ihn inzwischen eine enge Freundschaft verband.
Mit dem Dampfboot fuhr er weiter flussaufwärts bis nach Bingen, unternahm eine mehrtägige Wanderung entlang der Nahe bis  nach Kreuznach, wo er bei seinen Beobachtungen den Eindruck hatte, er stoße mit jedem Schritt an eine „faule Frucht der Geschichte“. Die krassen Gegensätze zwischen bestens ausgestatteten Kurgästen auf der Kreuznacher Promenade und den schwitzenden Arbeitern mit zerschundenen Händen in den Weinfeldern waren ihm unerträglich.
Hinter Bad Münster am Stein ging es bergauf zur Ebernburg, wo er sich beim Gang zwischen den Ruinen um einige Jahrhunderte zurück versetzt fühlte in die Reformationszeit, als der Burgbesitzer Franz von Sickingen, Freund des Volkes und Martin Luthers, hier gewohnt und entgegen allen Anfeindungen seiner Fürstenkollegen, verfolgten Reformatoren Asyl gewährt hatte. Auch Sickingens gleichgesinnter Freund, der Dichter Ulrich Hutten, war für lange Zeit dort oben untergekommen. Diese besondere Bedeutung verschaffte der Burg den Beinamen „Herberge der Gerechtigkeit“.
Eine weitere Unternehmung führte den Wanderer in das wildromantische, zerklüftete Wispertal. Stundenlang ging er allein, umgeben nur von der großartigen Natur, die doch klüger war als die Menschen, die es nicht fertig brachten, diese Großartigkeit auch denen zugänglich zu machen, die in Hütten hausten. Welch ein Widerspruch!
In dieser „Profeteneinsamkeit“ fochten die Gedanken in seinem Kopf einen fürchterlichen Kampf, der dann in leidenschaftlicher Empörung mit Feder und Tinte zum Ausbruch kam. In den sechsundneunzig Strophen von „Eine Rheinfahrt im August“ erinnerte der Autor an die hochfliegenden Hoffnungen auf Freiheit und Gerechtigkeit, zeigte das schwache Elend der vielen, die sich abquälten, damit wenige alle Reichtümer besäßen und stellte fest, das „fluchbeladene Metall“ richte nur Unheil und Blutvergießen an. Geld solle man besser im Rhein versenken wie den Nibelungenschatz. Gleichzeitig war dieses Gedicht eine Hymne an den mächtigen Fluss, der ruhig und unbeirrt seinen Weg nahm. An alle dem hatte der Rhein ja keine Schuld. Er war der ungekrönte König und auf ihm ruhten seine Hoffungen auf bessere Zeiten.
Die Zukunftsvision von Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit beherrschte Theodors gesamtes Denken, Fühlen und Handeln. Für die Verwirklichung dieses Ideals würde er alles geben. Als wollte er diesen Vorsatz besiegeln, taufte er sich eines Abends an einer Uferstelle selbst mit klarem Rheinwasser.
Außer in den gereimten Zeilen  „Eine Rheinfahrt im August“ bearbeitete Theodor Althaus seine Erlebnisse während dieser Wanderungen in zwei Erzählungen; „Herberge zur Gerechtigkeit“ und „Eine Nacht der Gegenwart“, die er in der Anthologie „Mährchen aus der Gegenwart“ publizierte. Der letzte Text in dieser kleinen Sammlung, überschrieben „Vom Rhein“, ist ein Auszug aus Theodor Althaus längerer Schrift „Aus dem Gefängniß“ die er während seiner Haftzeit im Staatsgefängnis in Hildesheim verfasste. 





Dienstag, 19. Februar 2013

1849 Ministerkrisis in Hannover




Mit dem erfreulichen Votum der zweiten Kammer waren jedoch keinesfalls Fakten im Zusammenhang mit der Publizierung der Reichsgesetze im Königreich Hannover geschaffen. Alle hofften, das Votum würde nach dem demokratischen Prinzip eine Auseinandersetzung nach sich ziehen.
Doch auch dieser Möglichkeit, aufeinander zuzugehen und einen Konsens zu schaffen, setzte das Ministerium einen Riegel vor. Am folgenden Tage reichten alle Minister bei König Ernst August ihre Entlassung ein.
Wie war dieser Rücktritt  zu verstehen? Waren es Gewissensgründe, war es Ratlosigkeit oder war es eine taktische Inszenierung?
Das fragte sich auch Althaus, der sich in Artikeln am 22. und 23. Februar das Geschehen vornahm. Inzwischen gab es nach einer kurzen Erklärung Stüve’s im Ständesaal ein weiteres Votum der zweiten Kammer, in der das Ministerschreiben vom 10. Februar mit 56 gegen 18 Stimmen ebenso klar abgelehnt und somit dem Ministerium von den gewählten Volksvertretern indirekt das Misstrauen ausgesprochen wurde.
„Die Ministerkrisis in Hannover“ sah Althaus, ausgehend von der tiefgreifenden Abkehr Österreichs und Preußens von der durch die Revolution in Gang gesetzten nationalen Entwicklungen, in Folge den Irritationen einiger kleinerer Staaten wie Württemberg, Kurhessen, Sachsen, Bayern und jetzt in Hannover als Schwankungen durch den Konflikt zwischen  „hemmenden Reaktionären“ und „treibenden Demokraten“.
Auf Stüve’s Kampf gegen die zweite Kammer bezogen sah Althaus den Gegensatz zwischen  „altconstitutioneller Doctrin“ und „auflebender Demokratie“ auf die Spitze getrieben, die Abkehr vom Prinzip der Volkssouveränität zugunsten der Souveränität des Königs.
Wie sollte es in Hannover weitergehen? König Ernst August reagierte zögerlich, indem er antwortete, er könne die Entlassung erst annehmen, wenn er in der Lage sei, ein entsprechendes neues Ministerium einzusetzen.  
Im weiteren Verlauf der Ministerkrisis kam es zu dem Geschehen, das Althaus im Artikel „Die Tragicomödie vom 8. März“ thematisierte. Der Advokat Grotefend hatte zu einer Kundgebung aufgerufen, in der demonstriert werden sollte, das hannoversche Volk stehe hinter dem derzeitig noch im Amt befindlichen Ministerium. Eine Abordnung sollte dem König eine Petition überbringen mit der Bitte, das Ministerium unter allen Umständen beizubehalten.
Es kam jedoch trotz intensiver Werbebemühungen in Stadt und Land nur ein kleines Häuflein Menschen, die sich mit diesem Anliegen identifizieren konnten. Andererseits gab es eine Gegendemonstration von Grundrechtsverfechtern, die mit hämischen Bemerkungen und Rufen Unruhe stifteten. Weil er fürchtete, man könnte diese Unruhe dem hannoverschen Volksverein anlasten, versuchte Adolf Mensching, der am 21. Januar 1849 zur Feier für die Anerkennung der Grundrechte aufgerufen hatte, auf die Menge beschwichtigend einzuwirken, indem er die Unruhestifter aufforderte, sich zurückzunehmen.
In seinem Blatt stellte Althaus die Veranstaltung als versuchte und missglückte Gegendemonstration zur Feier der Grundrechte im Januar dar und spottete, dass in der Leinstraße auf dem Weg zum Schloss das Häuflein so zusammengeschrumpft sei, dass  „das zu der imposanten Feier bestellte Musikcorps nur zur absichtlichen Persiflage“ diente. Er vergaß auch nicht zu erwähnen, dass die Angelegenheit für einen der Anwesenden rechtliche Folgen hatte. Damit meinte er wohl Dr. Adolf Mensching vom Volksverein. Der wurde verhaftet, verhört und von der königlichen Polizeidirektion Hannover wegen „Erregung eines Auflaufs oder Theilnahme an demselben“ zu drei Wochen Gefängnis verurteilt.
Mensching verbüßte die Strafe im Hannoverschen Stadtgefängnis. Die Vorgänge um seine Verhaftung schilderte er in einer Broschüre, um zu zeigen, wie weit das Königreich Hannover vom Zustand eines Rechtsstaates entfernt war.
Auch Theodor Althaus bekam Schwierigkeiten mit den hannoverschen Polizeibehörden. Er wurde wegen Beleidigung des Ministeriums zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, gegen deren Verbüßung sein Advokat jedoch Aufschub erreichte. Seine kritische Haltung gegenüber Stüve und seinen Ministerkollegen sowie entsprechende Publikationen in seinem Blatt änderte er jedoch nicht.


Leseprobe aus:

Renate Hupfeld, Theodor Althaus - Revolutionär in Deutschland

Taschenbuch bei  http://www.text-und-byte.de/



Dienstag, 12. Februar 2013

1849 Ständeversammlung in Hannover





Am 1. Februar 1849 war es dann so weit. Die Eröffnung der Ständeversammlung war für Hannover ein ganz besonderer Tag. Schon früh am Morgen fuhren Kutschen durch die Straßen der Stadt, um die Deputierten zum Eingang der Neustädter Hof- und Stadtkirche zu bringen, in der um 10 Uhr morgens ein Gottesdienst mit einer Predigt von Konsistorialrat Niemann stattfand. Anschließend ließen sich die Mitglieder zum Landschaftlichen Gebäude in der Osterstraße fahren.
Theodor Althaus war natürlich auf der Galerie des Ständesaales anwesend, als mittags um 2 Uhr Graf Bennigsen im Auftrag des Königs Ernst August  vor dem Plenum erschien und nach der Verlesung einer Thronrede, in der die politischen Richtlinien der Regierung des Königreichs Hannover dargelegt wurden, die Ständeversammlung eröffnete.
Zu dieser Regierungserklärung könnten im Leitartikel „Die Hannoversche Thronrede“ am 2. Februar 1849 eigentlich überwiegend erfreuliche Aussichten zur deutschen Angelegenheit zu lesen sein. Demnach betrachtete es seine Majestät, König Ernst August, als „eine heilige Pflicht für die Sicherheit und Wohlfahrt Deutschlands keine Opfer zu scheuen“.
Das hörte sich gut an, wäre da nicht ein dunkler Punkt in den Ausführungen gewesen. Die Thronrede enthielt eine Solidaritätserklärung  der hannoverschen Regierung für Preußen. Das fiel schwerer ins Gewicht als diffuse Beteuerungen in salbungsvollen Worten. In vorangegangenen Artikeln hatte Althaus es bereits fertig gebracht, den Nebel um die preußische Note vom 23. Januar 1849 zu lichten und den politischen Inhalt auf den Punkt zu bringen. Wie Österreich, verwehrte Preußen der deutschen Zentralgewalt die Akzeptanz und stellte somit die Kompetenz der Nationalversammlung in Frage. Das bedeutete auch eine Ablehnung des mehrheitlich favorisierten Vorschlags von Gagerns, der nach dem Rücktritt von Schmerling das Amt des Reichsministerpräsidenten übernommen hatte.
Ministerpräsident von Gagern plädierte für die kleindeutsche Lösung, d.h. einen deutschen Bundesstaat zunächst ohne Österreich und dafür, einen Kaiser an die Spitze des Reiches zu wählen. Alles andere hielten er und die parlamentarische Mehrheit zu der Zeit für nicht realisierbar. Preußen lehnte das ab.
Und wie sollte ein deutscher Nationalstaat gegen die Widerstände von Preußen realisiert werden? Wenn man vor diesem Hintergrund die Solidaritätserklärung der hannoverschen Regierung für Preußen betrachtete, wurde klar, wie tiefdunkel der kritische Punkt in dieser Thronrede war. Hannover half nicht nur der deutschen Sache nicht aus dem Sand, sondern schob sie noch weiter hinein.
Althaus appellierte an die Ständeversammlung, trotzdem einen Konsens anzustreben und sich als gewählte Volksvertreter im Königreich Hannover primär und vehement für das wichtigste Ziel einzusetzen: Die Verwirklichung von „Reich und Reichgesetz“, das hieß konkret, die seit dem 21. Januar 1849 ausstehende offizielle Anerkennung und Publizierung der am 28. Dezember 1848 im Reichsgesetzblatt verkündeten Grundrechte des deutschen Volkes einzufordern..
Seinem Vater schrieb Theodor am 2. Februar 1849, das Zusammenkommen der hannoverschen Stände habe frische Bewegung in sein Leben gebracht, was einerseits vermehrte Arbeit bedeutete, jedoch andererseits das Knüpfen neuer Kontakte ermöglichte. Insbesondere erwähnte er den Göttinger Literaten Adolf Ellissen, der in der Ständeversammlung als progressiver Geist eine wichtige Rolle spielte und Otto von Reden, dessen Erfahrungen als früherer preußischer Ministerialrat ihm einen Blick hinter die Kulissen der Verwaltung gewährte.
Wegen der unverschnörkelten Botschaften in seinen Artikeln hatte der leitende Redakteur des fortschrittlich orientierten Blattes bereits in den wenigen Wochen seit Erscheinen viel Aufmerksamkeit im positiven Sinne auf sich gezogen. Seiner Schwester vermeldete er im Brief nach Detmold eine erfolgreiche Entwicklung seiner Zeitung, die noch gesteigert werden könnte, wenn die Hannoversche Post schneller wäre und die Abläufe im Druck- und Verlagshaus Jänecke verbessert würden.  „Wie oft habe ich es gesagt: könnte ich mich in des Himmels Namen nur verdoppeln  oder verdreifachen! Zweimal würde ich mich für die Redaction engagiren und einmal für die Druckerei.“
Die gewählten Ständevertreter aus dem  gesamten Königreich sowie einige vom König ernannte Regierungsvertreter tagten, eingeteilt im Zweikammersystem, fast täglich im Landschaftlichen Gebäude, das in Hannover auch Ständehaus genannt wurde.
Die erste Kammer mit 68 Mitgliedern bestand überwiegend aus Abgeordneten der größeren Grundeigentümer, einigen von Handel und Gewerbe und einige Vertreter der evangelischen Geistlichkeit. In der zweiten Kammer waren mit 82 Mitgliedern fast alle Gesellschaftsschichten vertreten, vom Schuhmacher über den Deichvorsteher, Gastwirt, Oberförster, Ackermann, Amtsassessor, Schulheiß bis zum Advokaten.  
War schon die Thronrede der Regierung im Zusammenhang mit den Grundrechten und der zu erwartenden Reichsverfassung mehr als unbefriedigend ausgefallen, so beobachtete man das Geschehen in den Sitzungen der Stände mit entsprechend hohen Erwartungen und großen Hoffnungen.
In Anbetracht einer Fülle von eingegangenen Gesetzesvorlagen hielten die meisten Deputierten es für äußerst wichtig, die deutsche Frage nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern möglichst vor allen anderen anzugehen. Deshalb bildete man eine Kommission aus je sieben Mitgliedern pro Kammer mit dem Ziel, eine entsprechende Adressschrift an die Regierung auszuarbeiten,  eine Aktion, an der Adolf Ellissen maßgeblich beteiligt war. 

Leseprobe aus:

Renate Hupfeld, Theodor Althaus - Revolutionär in Deutschland

Taschenbuch bei  http://www.text-und-byte.de/





Freitag, 8. Februar 2013

1841 Rosenmontag in Köln

Im Jahr 1841 hatte sich im Rheinland bereits Anfang Februar der Frühling mit der Eisschmelze in den Flüssen angekündigt, sodass der Rhein wieder schiffbar war. Am Karnevalssonntag brachte das Schiff "Ludwig von Nassau" Theodor Althaus zusammen mit Rudolf Cruel, einem Freund namens Müller und vielen anderen karnevalslustigen Reisenden rheinabwärts, wo sie von dem Detmolder Georg Weerth und dessen Kölner Freunden eingeladen waren, sie am 22. Februar zum Rosenmontagszug zu begleiten. Weerth kostümiert als Don Quichote ritt auf Rosinante und dessen Knappe Sancho Pansa auf einem Esel, der einen großen Quersack über dem Hals trug, gefüllt mit sechs Flaschen Wein auf der einen, Brot, Äpfel und Zwiebeln auf der anderen Seite. So zogen die Freunde voraus und Theodor, Rudolf und Müller folgten ihnen auf den Neumarkt, wo schon die Karnevalsfahnen flatterten. Sie mischten sich unter das bunte Menschengewimmel und ließen die prächtige Wagenparade an sich vorbeiziehen. Von diesem Spektakel berichtete der junge Althaus in vielen Einzelheiten nach Hause. Vor allem hatte er Spaß an satirischen Darstellungen. Hanswurst auf dem Sonnenwagen als Schelm, der Konventionen missachtete und der Held, der vom Turm schwebend mit einer Knallrakete den gordischen Knoten löste. Hohn und Spott für die französischen Ambitionen auf die Rheingebiete auf einem anderen Wagen mit dem freien deutschen Vater Rhein mit seinem Sohn dem freien deutschen Rheinwein und "Sie sollen ihn nicht haben....", beide sollten sie nicht haben, daran hatte Theodor einen Heidenspaß.

























Bleistiftzeichnung von Malwida von Meysenbug: Theodor Althaus, 1843 
Erinnerung an die Tage vom 26t bis zum 30t November 1843
Landesarchiv Detmold, D 75 Nr. 7567


Hintergrundinformation zu:

Renate Hupfeld, Theodor Althaus - Revolutionär in Deutschland


Mittwoch, 16. Januar 2013

Grundrechte für Deutschland und für Hannover



Trotz der Bedenken des Hannoverschen Ministeriums waren die „Grundrechte des Deutschen Volkes“ mit Einführungsgesetz, datiert am 27. Dezember 1848 und unterschrieben vom Reichsverweser Erzherzog Johann sowie von den Reichsministern H. v. Gagern, v. Peucker, v. Beckerath, Duckwitz und R. Mohl, in Frankfurt verkündet worden. Die Bestimmungen in den acht Artikeln bildeten die Grundlage für das Zusammenleben im demokratischen Staatengebilde, vor allem die Freiheit der Person, Aufhebung der Standesunterschiede, Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, des Glaubens, der Wissenschaft und Lehre, Versammlungsfreiheit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte.
In den Druckereien der verschiedenen deutschen Länder, u.a.  bei J. G. Heyse in Bremen und bei Lehnhardt in Mainz, war der Gesetzestext in aufwändiger Gestaltung verlegt  und in den Ländern verteilt worden. Die Abonnenten der „Zeitung für Norddeutschland“ erhielten als Gratisbeilage ein schön gestaltetes Plakat mit Wappenvogel und Zierrahmen, gedruckt bei den Gebrüdern Jänecke. Dieses Schmuckstück wurde zu Hunderten in den Buchhandlungen verkauft und hing nun in Hannover an allen öffentlichen Orten aus. Auch in dem Café, in dem Althaus seit den Ermahnungen der Schwester jeden Abend nach Fertigstellung der Ausgabe für den nächsten Tag ein Ruhestündchen verbrachte, war es an der Wand angebracht. Mit Genugtuung stellte er fest, dass es ständig abgehängt und studiert wurde und von Hand zu Hand ging. Es war nun Sache der einzelnen Regierungen, das gesamtdeutsche Gesetzeswerk in den jeweiligen Ländern zu publizieren und umzusetzen.
Der 21. Januar 1849 war ein Sonntag. Nicht nur wegen des strahlenden Winterwetters war es ein ganz besonderer Tag. Nach einem Aufruf Adolf Menschings vom Hannoveraner Volksverein, der nach dem März 1848 aus den wöchentlichen Versammlungen im Ballhof hervorgegangen war, sollte in der Stadt die Anerkennung der Grundrechte des deutschen Volkes gefeiert werden. Theodor berichtete seiner Schwester von dem „herrlichen politischen Sonnenschein“, den Hannover an dem Tage erlebte. Am liebsten hätte er ihr die helle Morgensonne mit dem Brief hinüber nach Detmold geschickt. Und noch viel lieber hätte er Elisabeth dabei gehabt, als er nachmittags losging auf den Marktplatz, wo sich Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen versammelten, um für die Verkündung und Publizierung des Reichsgesetzes im Königreich Hannover zu demonstrieren. Er war auch dabei, als an die dreitausend Menschen vom Rathaus durch die Kramerstraße über den Holzmarkt zum Neustädter Markt zogen, wo die Grundrechte für das deutsche Volk öffentlich verlesen wurden.
Dieses eindrucksvolle Votum der Hannoverschen Bevölkerung führte jedoch keineswegs dazu, dass die gesamtdeutschen Grundrechte von der Regierung des Königreichs Hannover anerkannt und publiziert wurden.
Auch die Presse kämpfte für das Reichsgesetz, mit Ausnahme der „Hannoverschen Zeitung“, die als Sprachrohr der Regierung galt. Innenminister Stüve selbst verfasste regelmäßig Artikel für dieses Organ. Er hielt nach wie vor an seinen Bedenken fest und wartete, wie in den Aktenstücken vom Dezember 1848 angekündigt, auf die Entscheidung der Ständemitglieder, deren Wahl in diesen kalten und schneereichen Januartagen in vollem Gange war.



Montag, 7. Januar 2013

Grundrechte des Deutschen Volkes 1849



Ws-KuLa [<a href="https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0">CC BY-SA 3.0</a>], <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bilderrevolution0163.jpg">from Wikimedia Commons</a>

Trotz der Bedenken des Hannoverschen Ministeriums waren die „Grundrechte des Deutschen Volkes“ mit Einführungsgesetz, datiert am 27. Dezember 1848 und unterschrieben vom Reichsverweser Erzherzog Johann sowie von den Reichsministern H. v. Gagern, v. Peucker, v. Beckerath, Duckwitz und R. Mohl, in Frankfurt verkündet worden. Die Bestimmungen in den acht Artikeln bildeten die Grundlage für das Zusammenleben im demokratischen Staatengebilde, vor allem die Freiheit der Person, Aufhebung der Standesunterschiede, Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, des Glaubens, der Wissenschaft und Lehre, Versammlungsfreiheit und nicht zuletzt die Unabhängigkeit der Gerichte.
In den Druckereien der verschiedenen deutschen Länder, u.a.  bei J. G. Heyse in Bremen und bei Lehnhardt in Mainz, war der Gesetzestext in aufwändiger Gestaltung verlegt  und in den Ländern verteilt worden. Die Abonnenten der „Zeitung für Norddeutschland“ erhielten als Gratisbeilage ein schön gestaltetes Plakat mit Wappenvogel und Zierrahmen, gedruckt bei den Gebrüdern Jänecke. Dieses Schmuckstück wurde zu Hunderten in den Buchhandlungen verkauft und hing nun in Hannover an allen öffentlichen Orten aus. Auch in dem Café, in dem Althaus seit den Ermahnungen der Schwester jeden Abend nach Fertigstellung der Ausgabe für den nächsten Tag ein Ruhestündchen verbrachte, war es an der Wand angebracht. Mit Genugtuung stellte er fest, dass es ständig abgehängt und studiert wurde und von Hand zu Hand ging. Es war nun Sache der einzelnen Regierungen, das gesamtdeutsche Gesetzeswerk in den jeweiligen Ländern zu publizieren und umzusetzen.
Der 21. Januar 1849 war ein Sonntag. Nicht nur wegen des strahlenden Winterwetters war es ein ganz besonderer Tag. Nach einem Aufruf Adolf Menschings vom Hannoveraner Volksverein, der nach dem März 1848 aus den wöchentlichen Versammlungen im Ballhof hervorgegangen war, sollte in der Stadt die Anerkennung der Grundrechte des deutschen Volkes gefeiert werden. Theodor berichtete seiner Schwester von dem „herrlichen politischen Sonnenschein“, den Hannover an dem Tage erlebte. Am liebsten hätte er ihr die helle Morgensonne mit dem Brief hinüber nach Detmold geschickt. Und noch viel lieber hätte er Elisabeth dabei gehabt, als er nachmittags losging auf den Marktplatz, wo sich Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen versammelten, um für die Verkündung und Publizierung des Reichsgesetzes im Königreich Hannover zu demonstrieren. Er war auch dabei, als an die dreitausend Menschen vom Rathaus durch die Kramerstraße über den Holzmarkt zum Neustädter Markt zogen, wo die Grundrechte für das deutsche Volk öffentlich verlesen wurden.
Dieses eindrucksvolle Votum der Hannoverschen Bevölkerung führte jedoch keineswegs dazu, dass die gesamtdeutschen Grundrechte von der Regierung des Königreichs Hannover anerkannt und publiziert wurden.
Auch die Presse kämpfte für das Reichsgesetz, mit Ausnahme der „Hannoverschen Zeitung“, die als Sprachrohr der Regierung galt. Innenminister Stüve selbst verfasste regelmäßig Artikel für dieses Organ. Er hielt nach wie vor an seinen Bedenken fest und wartete, wie in den Aktenstücken vom Dezember 1848 angekündigt, auf die Entscheidung der Ständemitglieder, deren Wahl in diesen kalten und schneereichen Januartagen in vollem Gange war.

Bis hierher die Leseprobe ausTheodor Althaus - Revolutionär in Deutschland

Hier nun der Gesetzestext im Wortlaut: 

Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes
vom 27. Dezember 1848

Der Reichsverweser, in Ausführung des Beschlusses der Reichsversammlung vom 21.
Dezember 1848, verkündet als Gesetz:

I. Grundrechte des deutschen Volkes

Dem deutschen Volke sollen die nachstehenden Grundrechte gewährleistet sein. Sie
sollen den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen, und keine
Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates soll dieselben je
aufheben oder beschränken können.

Artikel 1.

§ 1. Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das
deutsche Reich bilden.

§ 2. Jeder Deutsche hat das deutsche Reichsbürgerrecht. Die ihm Kraft dessen
zustehenden Rechte kann er in jedem deutschen Lande ausüben. Ueber das Recht,
zur deutschen Reichsversammlung zu wählen, verfügt das Reichswahlgesetz.

§ 3. Jeder Deutsche hat das Recht, an jedem Orte des Reichsgebietes seinen
Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, Liegenschaften jeder Art zu erwerben und
darüber zu verfügen, jeden Nahrungszweig zu betreiben, das Gemeindebürgerrecht
zu gewinnen.
Die Bedingungen für den Aufenthalt und Wohnsitz werden durch ein Heimathsgesetz,
jene für den Gewerbebetrieb durch eine Gewerbeordnung für ganz Deutschland von
der Reichsgewalt festgesetzt.

§ 4. Kein deutscher Staat darf zwischen seinen Angehörigen und andern Deutschen
einen Unterschied im bürgerlichen, peinlichen und Prozeß-Rechte machen, welcher
die letzteren als Ausländer zurücksetzt.

§ 5. Die Strafe des bürgerlichen Todes soll nicht stattfinden, und da, wo sie
bereits ausgesprochen ist, in ihren Wirkungen aufhören, soweit nicht hierdurch
erworbene Privatrechte verletzt werden.

§ 6. Die Auswanderungsfreiheit ist von Staats wegen nicht beschränkt;
Abzugsgelder dürfen nicht erhoben werden.
Die Auswanderungsangelegenheit steht unter dem Schutze und der Fürsorge des
Reichs.

Artikel 2.

§ 7. Vor dem Gesetze gilt kein Unterschied der Stände. Der Adel als Stand ist
aufgehoben.
Alle Standesvorrechte sind abgeschafft.
Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.
Alle Titel, insoweit sie nicht mit einem Amte verbunden sind, sind aufgehoben
und dürfen nie wieder eingeführt werden.
Kein Staatsangehöriger darf von einem auswärtigen Staate einen Orden annehmen.
Die öffentlichen Ämter sind für alle Befähigten gleich zugänglich.
Die Wehrpflicht ist für alle gleich; Stellvertretung bei derselben findet nicht
statt.

Artikel 3.

§ 8. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Die Verhaftung einer Person soll, außer im Falle der Ergreifung auf frischer
That, nur geschehen in Kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen
Befehls. Dieser Befehl muß im Augenblicke der Verhaftung oder innerhalb der
nächsten vier und zwanzig Stunden dem Verhafteten zugestellt werden.
Die Polizeibehörde muß Jeden, den sie in Verwahrung genommen hat, im Laufe des
folgenden Tages entweder freilassen oder der richterlichen Behörde übergeben.
Jeder Angeschuldigte soll gegen Stellung einer vom Gericht zu bestimmenden
Caution oder Bürgschaft der Haft entlassen werden, sofern nicht dringende
Anzeigen eines schweren peinlichen Verbrechens gegen denselben vorliegen.
Im Falle einer widerrechtlich verfügten oder verlängerten Gefangenschaft ist der
Schuldige und nöthigenfalls der Staat dem Verletzten zur Genugthuung und
Entschädigung verpflichtet.
Die für das Heer- und Seewesen erforderlichen Modificationen dieser Bestimmungen
werden besonderen Gesetzen vorbehalten.

§ 9. Die Todesstrafe, ausgenommen wo das Kriegsrecht sie vorschreibt, oder das
Seerecht im Fall von Meutereien sie zuläßt, so wie die Strafen des Prangers, der
Brandmarkung und der körperlichen Züchtigung, sind abgeschafft.

§ 10. Die Wohnung ist unverletzlich.
Eine Haussuchung ist nur zulässig:
1. In Kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehls, welcher sofort
oder innerhalb der nächsten vier und zwanzig Stunden dem Betheiligten zugestellt
werden soll,
2. Im Falle der Verfolgung auf frischer That, durch den gesetzlich berechtigten
Beamten,
3. In den Fällen und Formen, in welchen das Gesetz ausnahmsweise bestimmten
Beamten auch ohne richterlichen Befehl dieselbe gestattet.
Die Haussuchung muß, wenn thunlich, mit Zuziehung von Hausgenossen erfolgen.
Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist kein Hinderniß der Verhaftung eines
gerichtlich Verfolgten.

§ 11. Die Beschlagnahme von Briefen und Papieren darf, außer bei einer
Verhaftung oder Haussuchung, nur in Kraft eines richterlichen, mit Gründen
versehenen Befehls vorgenommen werden, welcher sofort oder innerhalb der
nächsten vier und zwanzig Stunden dem Betheiligten zugestellt werden soll.

§ 12. Das Briefgeheimniß ist gewährleistet.
Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen
Beschränkungen sind durch die Gesetzgebung festzustellen.

Artikel 4.

§ 13. Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche
Darstellung seine Meinung frei zu äußern.
Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch
vorbeugende Maßregeln, namentlich Censur, Concessionen, Sicherheitsbestellungen,
Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien oder des Buchhandels, Postverbote
oder andere Hemmungen des freien Verkehrs beschränkt, suspendirt oder aufgehoben
werden.
Ueber Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden, wird durch
Schwurgerichte geurtheilt.
Ein Preßgesetz wird vom Reiche erlassen werden.

Artikel 5.

§ 14. Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit.
Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Ueberzeugung zu offenbaren.

§ 15. Jeder Deutsche ist unbeschränkt in der gemeinsamen häuslichen und
öffentlichen Uebung seiner Religion.
Verbrechen und Vergehen, welche bei Ausübung dieser Freiheit begangen werden,
sind nach dem Gesetze zu bestrafen.

§ 16. Durch das religiöse Bekenntniß wird der Genuß der bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt. Den staatsbürgerlichen
Pflichten darf dasselbe keinen Abbruch thun.

§ 17. Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten
selbstständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.
Keine Religionsgesellschaft genießt vor andern Vorrechte durch den Staat; es
besteht fernerhin keine Staatskirche.
Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres
Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht.

§ 18. Niemand soll zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen
werden.

§ 19. Die Formel des Eides soll künftig lauten: "So wahr mir Gott helfe".

§ 20. Die bürgerliche Gültigkeit der Ehe ist nur von der Vollziehung des
Civilactes abhängig; die kirchliche Trauung kann nur nach der Vollziehung des
Civilactes stattfinden.
Die Religionsverschiedenheit ist kein bürgerliches Ehehinderniß.

§ 21. Die Standesbücher werden von den bürgerlichen Behörden geführt.

Artikel 6. 

§ 23. Das Unterrichts- und Erziehungswesen steht unter der Oberaufsicht des
Staates, und ist, abgesehen vom Religionsunterricht, der Beaufsichtigung der
Geistlichkeit als solcher enthoben.

§ 24. Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen, zu leiten und an solchen
Unterricht zu ertheilen, steht jedem Deutschen frei, wenn er seine Befähigung
der betreffenden Staatsbehörde nachgewiesen hat.
Der häusliche Unterricht unterliegt keiner Beschränkung.

§ 25. Für die Bildung der deutschen Jugend soll durch öffentliche Schulen
überall genügend gesorgt werden.
Eltern oder deren Stellvertreter dürfen ihre Kinder oder Pflegebefohlenen nicht
ohne den Unterricht lassen, welcher für die unteren Volksschulen vorgeschrieben
ist.

§ 26. Die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener.
Der Staat stellt unter gesetzlich geordneter Betheiligung der Gemeinden aus der
Zahl der Geprüften die Lehrer der Volksschulen an.

§ 27. Für den Unterricht in Volksschulen und niederen Gewerbeschulen wird kein
Schulgeld bezahlt.
Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Unterrichtsanstalten freier Unterricht
gewährt werden.

§ 28. Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben
auszubilden, wie und wo er will.

Artikel 7.

§ 29. Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu
versammeln; einer besonderen Erlaubniß dazu bedarf es nicht.
Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die
öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden.

§ 30. Die Deutschen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieses Recht soll durch
keine vorbeugende Maßregel beschränkt werden.

§ 31. Die in den §§ 29 und 30 enthaltenen Bestimmungen finden auf das Heer und
die Kriegsflotte Anwendung, insoweit die militärischen Disciplinarvorschriften
nicht entgegenstehen.

Artikel 8.

§ 32. Das Eigenthum ist unverletzlich.
Eine Enteignung kann nur aus Rücksichten des gemeinen Besten, nur auf Grund
eines Gesetzes und gegen gerechte Entschädigung vorgenommen werden.
Das geistige Eigenthum soll durch die Reichsgesetzgebung geschützt werden.

§ 33. Jeder Grundeigenthümer kann seinen Grundbesitz unter Lebenden und von
Todes wegen ganz oder theilweise veräußern. Den Einzelstaaten bleibt überlassen,
die Durchführung des Grundsatzes der Theilbarkeit alles Grundeigenthums durch
Uebergangsgesetze zu vermitteln.
Für die todte Hand sind Beschränkungen des Rechts, Liegenschaften zu erwerben
und über sie zu verfügen, im Wege der Gesetzgebung aus Gründen des öffentlichen
Wohls zulässig.

§ 34. Jeder Unterthänigkeits- und Hörigkeitsverband hört für immer auf.

§ 35. Ohne Entschädigung sind aufgehoben:

1. Die Patrimonialgerichtsbarkeit und die grundherrliche Polizei, sammt den aus
diesen Rechten fließenden Befugnissen, Exemtionen und Abgaben.
2. Die aus dem guts- und schutzherrlichen Verbande fließenden persönlichen
Abgaben und Leistungen.
Mit diesen Rechten fallen auch die Gegenleistungen und Lasten weg, welche dem
bisher Berechtigten dafür oblagen.

§ 36. Alle auf Grund und Boden haftenden Abgaben und Leistungen, insbesondere
die Zehnten, sind ablösbar: ob nur auf Antrag des Belasteten oder auch des
Berechtigten, und in welcher Weise, bleibt der Gesetzgebung der einzelnen
Staaten überlassen.
Es soll fortan kein Grundstück mit einer unablösbaren Abgabe oder Leistung
belastet werden.

§ 37. Im Grundeigenthum liegt die Berechtigung zur Jagd auf eignem Grund und
Boden.
Die Jagdgerechtigkeit auf fremden Grund und Boden, Jagddienste, Jagdfrohnden und
andere Leistungen für Jagdzwecke sind ohne Entschädigung aufgehoben.
Nur ablösbar jedoch ist die Jagdgerechtigkeit, welche erweislich durch einen
lästigen mit dem Eigenthümer des belasteten Grundstücks abgeschlossenen Vertrag
erworben ist; über die Art und Weise der Ablösung haben die Landesgesetzgebungen
das Weitere zu bestimmen.
Die Ausübung des Jagdrechts aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und des
gemeinen Wohls zu ordnen, bleibt der Landesgesetzgebung vorbehalten.
Die Jagdgerechtigkeit auf fremdem Grund und Boden darf in Zukunft nicht wieder
als Grundgerechtigkeit bestellt werden.

§ 38. Die Familienfideicommisse sind aufzuheben. Die Art und Bedingungen der
Aufhebung bestimmt die Gesetzgebung der einzelnen Staaten.
Ueber die Familienfideicommisse der regierenden fürstlichen Häuser bleiben die
Bestimmungen den Landesgesetzgebungen vorbehalten.

§ 39. Aller Lehensverband ist aufzuheben. Das Nähere über die Art und Weise der
Ausführung haben die Gesetzgebungen der Einzelstaaten anzuordnen.

§ 40. Die Strafe der Vermögenseinziehung soll nicht stattfinden.

Artikel 9.

§ 41. Alle Gerichtsbarkeit geht vom Staate aus. Es sollen keine
Patrimonialgerichte bestehen.

§ 42. Die richterliche Gewalt wird selbstständig von den Gerichten geübt.
Cabinets- und Ministerialjustiz ist unstatthaft.
Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte
sollen nie stattfinden.

§ 43. Es soll keinen privilegirten Gerichtsstand der Personen oder Güter geben.
Die Militärgerichtsbarkeit ist auf die Aburtheilung militärischer Verbrechen und
Vergehen, so wie der Militär-Disciplinarvergehen beschränkt, vorbehaltlich der
Bestimmungen für den Kriegsstand.

§ 44. Kein Richter darf, außer durch Urtheil und Recht, von seinem Amt entfernt,
oder an Rang und Gehalt beeinträchtigt werden.
Suspension darf nicht ohne gerichtlichen Beschluß erfolgen.
Kein Richter darf wider seinen Willen, außer durch gerichtlichen Beschluß in den
durch das Gesetz bestimmten Fällen und Formen, zu einer andern Stelle versetzt
oder in Ruhestand gesetzt werden.

§ 45. Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein.
Ausnahmen von der Oeffentlichkeit bestimmt im Interesse der Sittlichkeit das
Gesetz.

§ 46. In Strafsachen gilt der Anklageprozeß.
Schwurgerichte sollen jedenfalls in schwereren Strafsachen und bei allen
politischen Vergehen urtheilen.

§ 47. Die bürgerliche Rechtspflege soll in Sachen besonderer Berufserfahrung
durch sachkundige, von den Berufsgenossen frei gewählte Richter geübt oder
mitgeübt werden.

§ 48. Rechtspflege und Verwaltung sollen getrennt und von einander unabhängig
sein.
Ueber Competenzconflicte zwischen den Verwaltungs- und Gerichtsbehörden in den
Einzelstaaten entscheidet ein durch das Gesetz zu bestimmender Gerichtshof.

§ 49. Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen
entscheiden die Gerichte.
Der Polizei steht keine Strafgerichtsbarkeit zu.

§ 50. Rechtskräftige Urtheile deutscher Gerichte sind in allen deutschen Landen
gleich wirksam und vollziehbar.

Ein Reichsgesetz wird das Nähere bestimmen.

II. Einführungs-Gesetz

Die Grundrechte des deutschen Volks werden im ganzen Umfange des deutschen
Reichs unter nachfolgenden Bestimmungen hiermit eingefügt:

Artikel 1.

Mit diesen Reichsgesetze treten in Kraft die Bestimmungen:
1) der Paragraphen eins und zwei,

2) des Paragraphen drei, jedoch in Beziehung auf Aufenthalt, Wohnsitz und
Gewerbebetrieb unter Vorbehalt der in Aussicht gestellten Reichsgesetze,

3) der Paragraphen vier, fünf und sechs,

4) des Paragraphen sieben unter Vorbehalt der in Art. 3 und 8 dieses Gesetzes
enthaltenen Beschränkungen,

5) des Paragraphen acht, und zwar rücksichtlich des letzten, Heer und Seewesen
betreffenden, Absatzes unter Verweisung auf Art. 3 dieses Gesetzes,

6) des Paragraphen zehn, unter Vorbehalt der unter Art. 3 und 7 enthaltenen
Bestimmungen,

7) des Paragraphen eilf und zwölf,

8) des Paragraphen dreizehn, mit der Maßgabe, daß, wo schwurgerichte noch nicht
eingeführt sind, bis zu deren Einführung über Preßvergehen die bestehenden
Gerichte entscheiden,

9) der Paragraphen vierzehn, fünfzehn, sechszehn, so wie des zweiten und dritten
Absatzes im Paragraphen siebzehn, und des Paragraphen achtzehn,

10) der Paragraphen zweiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig und
achtundzwanzig,

11) der Paragraphen neunundzwanzig, dreißig und einunddreißig,

12) des Paragraphen zweiunddreißig, des zweiten Absatzes im Paragraphen
dreiunddreißig, der Paragraphen vierunddreißig, fünfunddreißig mit Ausnahme des
ersten Absatzes (Art. 3 Nr. 8), des zweiten Absatzes im Paragraphen
sechsunddreißig, dann siebenunddreißig unter Vorbehalt der über die Ablösung der
betreffenden Jagdgerechtigkeiten und über die Ausübung des Jagdrechts zu
erlassenden Gesetze (Art. 4),

13) des Paragraphen zweiundvierzig und des ersten Absatzes im Paragraphen
vierundvierzig.
Alle Bestimmungen einzelner Landesrechte, welche hiermit in Widerspruch stehen,
treten außer Kraft.

Artikel 2.

In Beziehung auf den im Paragraphen siebenzehn ausgesprochenen Grundsatz der
Selbstständigkeit der Religionsgesellschaften sollen die organischen
Einrichtungen und Gesetze, welche für die bestehenden Kirchen zur Durchführung
dieses Princips erforderlich sind, in den Einzelstaaten möglichst bald getroffen
und erlassen werden.

Artikel 3.

Abänderungen oder Ergänzungen der Landesgesetzgebungen, soweit dieselben durch
die folgenden Bestimmungen der Grundrechte geboten sind, sollen ungesäumt auf
verfassungsmäßigem Wege getroffen werden, und zwar

1) statt der im Paragraphen neun und Paragraphen vierzig abgeschafften Strafen
des Todes, des Prangers, der Brandmarkung, der körperlichen Züchtigung und der
Vermögenseinziehung durch gesetzliche Feststellung einer anderweiten Bestrafung
der betreffenden Verbrechen;

2) durch Ausfüllung der Lücken, welche in Folge der im Paragraphen sieben
ausgesprochenen Aufhebung der Standesunterscheide im Privatrechte eintreten;

3) durch Regelung der Wehrpflicht auf Grund der im Paragraphen sieben
enthaltenen Vorschrift;

4) durch Feststellung der beim Heer- und Seewesen vorbehaltenen Modificationen
des Paragraphen acht;

5) durch Erlassung der Gesetze, welche den dritten im Paragraphen zehn erwähnten
Fall der Haussuchung ordnen;

6) durch Erlassung der nach Paragraph neunzehn, zwanzig und einundzwanzig
erforderlichen Vorschriften über Eid, Ehe und Standesbücher;

7) durch Einrichtung des Schulwesens auf Grund der Paragraphen dreiundzwanzig,
sechsundzwanzig und siebenundzwanzig;

8) durch Aenderungen im Gerichts- und Verwaltungswesen, gemäß den Bestimmungen
des Paragraphen fünfunddreißig im ersten Absatz, der Paragraphen einundvierzig,
dreiundvierzig im zweiten und dritten Absatze, sowie der Paragraphen
fünfundvierzig bis einschließlich neunundvierzig.

Artikel 4.

Ebenso ist ungesäumt die weitere Feststellung der in den Paragraphen
dreiunddreißig, sechsunddreißig bis einschließlich neununddreißig geordneten
Eigenthumsverhältnisse in den einzelnen Staaten vorzunehmen.

Artikel 5.

Die Erlassung und Ausführung der vorstehend gedachten neuen Gesetze sollen von
Reichs wegen überwacht werden.

Artikel 6.

Bis zur Erlassung der in den Paragraphen drei, dreizehn, zweiunddreißig und
fünfzig erwähnten Reichsgesetze sind die betreffenden Verhältnisse der
Landesgesetzgebung unterworfen.

Artikel 7.

In den Fällen, in welchen nach dem Vorstehenden neue Gesetze erforderlich oder
in Aussicht gestellt sind, bleiben bis zur Erlassung derselben für die
betreffenden Verhältnisse die bisherige Gesetze in Kraft. Rücksichtlich der
Haussuchung bleibt denjenigen öffentlichen Beamten, welche zum Schutz der
Abgabenerhebung und des Waldeigenthums zur Haussuchung befugt sind, vorläufig
diese Befugniß.

Artikel 8.

Abänderungen der Grundverfassung einzelner deutscher Staaten, welche durch die
Abschaffung der Standesvorrechte nothwendig werden, sollen innerhalb von sechs
Monaten durch die gegenwärtigen Organe der Landesgesetzgebung nach folgenden
Bestimmungen herbeigeführt werden:

1) die durch die Verfassungsurkunden für den Fall der Verfassungsänderungen
vorgeschriebenen Erschwerungen der Beschlußnahme finden keine Anwendung,
vielmehr ist in den Formen der gewöhnlichen Gesetzgebung zu verfahren;

2) wenn in Staaten, wo zwei Kammern bestehen, dieser Weg keine Vereinigung
herbeiführen sollte, so treten diese zusammen, um in einer Versammlung durch
einfache Stimmenmehrheit die erforderlichen Beschlüsse zu fassen.
Uebrigens bleibt es den gegenwärtigen Organen der Landesgesetzgebung unbenommen,
sich darüber, daß die gedachten Abänderungen durch eine neu zu wählende
Landesversammlung vorgenommen werden, zu vereinbaren, für welche Vereinbarung
die Bestimmungen unter 1) und 2) gleichfalls maßgebend sind.
Sind in der bezeichneten Frist die betreffenden Gesetze nicht erlassen, so hat
die Reichsgewalt die Regierung des einzelnen Staates aufzufordern, ungesäumt auf
Grundlage des Reichswahlgesetzes eine aus einer einzigen Kammer bestehenden
Landesversammlung zur Revision der Landesverfassung und übrigen Gesetzgebung in
Uebereinstimmung mit den Beschlüssen der Nationalversammlung zu berufen.


Frankfurt, am 27. Dezember 1848


Der Reichsverweser
Erzherzog Johann
Die Reichsminister
H. v. Gagern
v. Peucker
v. Beckerath
Duckwitz
R. Mohl
Das vorstehende Reichsgesetz wurde in die Verfassung des deutschen Reiches vom
28. März 1849 übernommen, doch waren die Bestimmungen des Gesetzes als
unmittelbares Recht in Deutschland in Kraft und wurden erst durch Bundesbeschluß
(Beschluß der Bundesversammlung des Deutschen Bundes) vom 23. August 1851 formal
außer Kraft gesetzt.



Quellen:

Reichsgesetzblatt 1848 8. Stück, Ausgegeben Frankfurt a. M., den 28. December S. 49, 57

Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 1, Verlag
Kohlhammer