Freitag, 20. Februar 2015

1848: Sturmglocken von Notre Dame


Der germanische Winterschlaf war die berühmte Ruhe vor dem großen Sturm. Als Theodor Althaus am 27. Januar 1848 im Leipziger Theater einer Vorstellung von Glucks Iphigenie in Aulis beiwohnte, war es ihm unmöglich, seine Aufmerksamkeit auf die Opernbühne zu lenken, denn unmittelbar zuvor hatte er die Nachricht vom erfolgreichen Aufstand der Bevölkerung in Palermo gegen den bourbonischen König Ferdinand II. am 12. Januar 1848 erhalten. Das war die größte Freude, die er seit langem erlebt hatte. Die Lichter von Palermo, nachts um drei angezündet, sah er während der gesamten Vorstellung vor sich. Ich hoffe, du hast unseren ersten Sieg in diesem Jahr gehörig genossen und den 12. Januar roth angestrichen, schrieb er seiner Schwester nach Detmold.
Ein paar Tage später stand er im gedrängt vollen Konversationssaal des Museums, eine gerade eingetroffene Zeitung in den Händen, die Indépendance Belge, aus der er fast atemlos einen Artikel über Sturmglocken von Notre Dame, dem Sturz von König Louis Philippe am 24. Februar 1848, vorlas. Das war weit mehr als Sizilien, das konnte umwerfende Auswirkungen auf die Länder des Deutschen Bundes haben. Wie sah die neue Regierung in Frankreich aus? Gab es eine Republik? Ungeduldig fiebernd wartete man auf weitere Nachrichten, auf Journale oder Reisende mit dem Zug aus Brüssel oder aus Köln.
Am 5. März 1848 konnte er endlich die befreienden Informationen in seinem Tagebuch notieren. Einen Tag nach dem Sturz des Monarchen war in Paris die Republik ausgerufen und eine provisorische Regierung gebildet worden: Ich habe Angst gehabt, wie eine Mutter um ihr Kind, bis endlich, allendlich das Ja und Amen kam - keine Regentschaft, sondern Republik, keine Freude, sondern Enthusiasmus, kein neues Ministerium - eine neue Welt! Ich habe kaum Zeit zu denken […]. Ich kann mich nicht satt lesen an den Verordnungen der provisorischen Regierung. Als ich zum erstenmal die Ueberschrift las, hab ich geweint vor Freude:
Republique Francaise,
Liberté, Egalité, Fraternité

Als die Freudentränen versiegt waren, stellte sich für den jungen Heißsporn die Frage: Und jetzt? Da war einer schon längst aktiv. Robert Blum versammelte Gleichgesinnte um sich und hatte auch konkrete Pläne. Zuerst wollte er in Leipzig und Sachsen Einfluss nehmen, im Stadtparlament und im Redeübungsverein. Es hieß Forderungen und in Broschüren publizieren: Geschworenengerichte, Presse- und Versammlungsfreiheit, Rücktritt der sächsischen Regierung, Wahlreform, Volksbewaffnung anstelle von Soldaten. Blum war in seinem Element. Sonst immer mit Reden vorneweg, saß Althaus jetzt nur still dabei. Er musste die neuen Entwicklungen erst einmal begreifen. Wie sollte ein freies einheitliches Deutschland aussehen? Noch ehe er sich über seinen Anteil an Blums Aktivitäten klar werden konnte, bekam er ein Angebot von der Weser-Zeitung. Jetzt wollte man ihn als Leitartikler in Bremen sehen.
Am 9. März war er unterwegs nach Norddeutschland. Doch er hatte kaum Zeit, sich in Bremen zu etablieren, als der nächste Donnerschlag durch das Land hallte. Der kam aus Wien. Nach einem Sturm auf das Ständehaus war der vierundsiebzigjährige Staatskanzler Fürst Metternich am Abend des 13. März 1848 ins Exil geflohen. In der Bremer Redaktion wurde die neue Situation in den Ländern des deutschen Bundes erörtert und die politische Richtung der Weser-Zeitung festgelegt. Sollte Deutschland eine parlamentarische Monarchie oder eine Republik werden? Letzteres würde die Abschaffung der Königs-, Fürsten- und Herzogtümer bedeuten. Als glühender Verfechter der Republik konnte Althaus sich nichts anderes vorstellen. Die Redakteure der Weser-Zeitung hingegen wollten einen gemäßigten Kurs fahren. Somit kam eine enge Mitarbeit in der Bremer Redaktion für beide Seiten nicht mehr in Betracht. An seinen Artikeln war man jedoch nach wie vor interessiert.

So fuhr Althaus zurück nach Leipzig, um weitere Nachrichten zu den Ereignissen in Wien einzuholen und von dort nach Bremen zu berichten. Als er am 19. März im Leipziger Museumssaal ankam, schlug bereits die nächste Bombe ein. Die Extraausgaben der Zeitungen brachten erste Berichte von heftigsten Straßenkämpfen in Berlin. Mit dem Abendzug machte er sich auf den Weg in die preußische Hauptstadt, kam aber nur bis Magdeburg und übernachtete im Hotel Stadt London.

Leseprobe aus: 



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