Montag, 10. November 2014

Die Deutsche Einheit und die Parteien der Gegenwart

Leitartikel von Theodor Althaus in der Bremer Zeitung am 10. November 1848



* In der Geschichte der deutschen Einheit sind wir seit einiger Zeit auf einem Wendepunkte angelangt, wo eine Orientirung zur Nothwendigkeit wird. Rasch ändern mit den fortschreitenden revolutionären Begebenheiten die Worte ihre Bedeutung, und so verwirren sich die alten und neuen Leidenschaften in deren Anwendung. Je beweglicher die öffentliche Meinung und die Herzen des Volks dem Einfluß der großen einfachen Gedanken, der weitschallenden Losungsworte hingegeben sind, desto schärfer muß man stets von neuem untersuchen, ob der Inhalt des Gedankens, die Bedeutung des Wortes noch dieselbe geblieben ist, ob der alte Kampfruf noch gegen denselben Feind, die alte begeisternde Losung noch zu demselben Ziele führt.
Ein Blick in die Gegenwart zeigt uns, daß die  „d e u t s c h e  E i n h e i t“, wie sie jetzt im Kampf als Waffe gilt, nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie im Anfang der Revolution. Das Ziel, für welches die absolutistische Rechte in Berlin schwärmt, für welches die preußische Camarilla und das Ministerium der bewaffneten Reaction dieselben preußischen Truppen zur Disposition stellen, mit denen sie die Conterrevolution zerschmetternd einführen wollen, kann unmöglich dasselbe sein, nach welchem die Demokraten streben. Jene Losung passt für uns nicht mehr von dem Augenblicke an, wo unsere Feinde sie in den Mund genommen und uns damit den offenbarsten Beweis gegeben haben, daß sie nur ein  M i t t e l  für andere  Z w e c k e  ist.
In der ersten Periode unserer Revolution war die  w i r k l i c h e  Einheit das Ziel der Patrioten und zugleich das  M i t t e l  der  D e m o k r a t e n; in der gegenwärtigen zweiten Periode ist die  f o r m e l l e  Einheit das  M i t t e l  der  R e a c t i o n, während die Sache noch immer das Ziel der Demokraten geblieben ist. Sie haben sich nur augenblicklich gegen die Form gewendet, eben weil diese Form grade von der Reaction mit Erfolg als Mittel benutzt wird. Die  V e r w i r r u n g, wo man Freund und Feind nicht mehr erkennt, entsteht dadurch, daß man die  S a c h e  nicht von der  F o r m  unterscheidet. Es ist im Interesse der Reaction, diese Verwirrung zu erhalten, um die Demokraten in der öffentlichen Meinung und in den patriotischen Herzen der Menge zu ruiniren; eben darum ist es in  u n s t e m  höchsten Interesse, diese Verwirrung aufzuklären, um die Reaction zu entlarven und die Demokraten zu vertheidigen.
Die  w i r k l i c h e  Einheit Deutschlands besteht darin, daß in der definitiven Verfassung des Bundesstaats die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Handelspolitik und Zollgesetzgebung, Krieg und Frieden, Verwendung des Heers und der Flotte von einer souveränen Reichsgewalt abhängen, ohne irgendwelche Vereinbarung mit den Einzelstaaten. Das sind die wesentlichen Lebensbedingungen für Deutschland, das ist die Sache, um die es sich bei der deutschen Einheit handelt; und der  w i r k l i c h e, unter allen Umständen zu vernichtende  P a r t i k u l a r i s m u s  ist nur das Bestreben, den Einzelstaaten eine Selbstständigkeit zu erhalten, welche diese Einheit irgendwie beeinträchtigen kann.
Gegen diesen Partikularismus richtete sich der Kampf zweier in Bezug auf Freiheitsfragen sehr getrennter Parteien in der ersten Periode unserer Revolution; ein Kampf gegen die Regierungen und die Conservativen. Der einen der beiden damals verbundenen Parteien war es um die  E i n h e i t – und Freiheit, der anderen um  D e m o k r a t i e  -  und Einheit zu thun.
Diesen Kampf dürfen wir in dem nichtösterreichischen Deutschland wohl getrost als einen siegreich  b e e n d i g t e n  bezeichnen; die Verfassungsdebatten in Frankfurt geben Zeugniß davon, daß nur eine geringe Minorität im sinne des Particularismus noch hier und da ein kleines Recht zu retten sucht; die Sache der wirklichen Einheit wird von einer weit überwiegenden Majorität geführt,“ in deren Reihen die Republikaner überall voran sind.
Ihnen also wirklichen Particularismus vorzuwerfen, ist eine bloße Parteioperation. Auch gebraucht man gegen sie nur das  W o r t, weil es aus seiner Zeit noch einen gehässigen Klang hat; aber selbst die feindseligsten Blätter haben ihnen niemals den Vorwurf machen können, daß sie auf eine definitive Bundesverfassung hinarbeiteten, in welcher die doch nothwendige Souveränetät der Reichsgewalt des einen Deutschland durch die Selbstständigkeit der Einzelstaaten beeinträchtigt werden könnte, und nur  d a s  wäre  w i r k l i c h e r  Particularismus.
Vielmehr beziehn sich diese Vorwürfe alle nicht auf die  d e f i n i t i v e  Verfassung, sondern auf den   p r o v i s o r i s c h e n  Zustand; nicht auf die  w i r k l i c h e, sondern auf die  f o r m e l l e  Einheit, und endlich weit weniger auf  G e s e t z e  der  N a t i o n a l v e r s a m m l u n g, als vielmehr auf  M a ß r e g e l n  des  R e i c h s m i n i s t e r i u m s.
Die  f o r m e l l e  Einheit besteht gegenwärtig erstens darin, daß die Einzelstaaten die in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung ohne weiteres annehmen, und zweitens, sich allen Maßregeln und Beschlüssen des Reichsministeriums unbedingt fügen sollen.
W a r u m  nun die demokratische Partei, vor allem in der berliner Versammlung, gegen diese Form aufgetreten ist, warum in Sachsen die Linke sich mit den „gewissenhaften“ Ministern in diesem Sinne vereinigt hat: das liegt doch sonnenklar vor jedem Blick, der nur die Wahrheit sehen  w i l l. die Demokraten haben es gethan, weil sie am Centralsitz dieser Einheit sehr oft schlecht für die  F r e i h e i t  gesorgt sahen; sie wollten ein eventuelles Veto gegen die Reichsverfassung sich vorbehalten, weil sie Grund zu dr Furcht hatten, daß diese Verfassung nicht demokratisch sondern altconstitutionell ausfallen würde; sie protestirten gegen die Maßregeln der Centralgewalt, weil sie Maßregeln der Reaction darin sahen, - mit einem Wort: sie nahmen  f ü r  d e n  A u g e n b l i c k  Position gegen die  p r o v i s o r i s c h e  f o r m e l l e  E i n h e i t, weil sie nicht wie es schon einmal geschah, mit diesem Losungsworte das Vaterland um die  w i r k l i c h e  u n d  d e f i n i tt i v e  F r e i h e i t  gebracht sehn wollten. Es war und ist nicht der zähe Geiz des herzlosen Particularismus, sondern die schmerzliche Nothwehr des Lebens und der Freiheit. Und ebenso war bei den Conservativen die plötzliche Parteinahme gegen den sogenannten souveränen Nationalwillen, sondern die hämische Berechnung, der Demokratie mit ihren eignen früheren Waffen den Todesstreich zu versetzen; ihre Gemeinschaft in der deutschen Einheit war nichts als ihr Complott zu Gunsten der Reaction, für die ihnen die Centralgewalt äußerst brauchbar schien.
S o  liegen die Sachen, und diese Sachlage muß man um so kräftiger darstellen und wiederholen, je mehr sie mit Treulosigkeit verdreht, je mehr die politische und gegenwärtige Bedeutung des Einheitsgedankens durch die juristische Form verhüllt werden soll.
Wem das noch nicht klar geworden ist, den weisen wir auf den Conflict zwischen  F r a n k f u r t  und  B e r l i n. Jeder weiß, daß wir den über die  p o s e n s c h e  Angelegenheit meinen.
Sollen wir in ihr die Fehler und die Schuld auf beiden Seiten finden oder müssen wir es ein  V e r h ä n g n i ß  nennen, daß auf diesem Gipfelpunkt die Einheit und die Freiheit sich zum verderben begegnen! Fast unvermeidlich scheint es.
In Frankfurt ward – um der deutschen Einheit willen – beschlossen, Posen zu theilen. In Berlin geben die Freiheitssympathien für die Posen den letzten (nicht den einzigen) Ausschlag zu dem Beschluß: Posen soll ungetheilt bleiben.
Daß die Nationalversammlung – wenn auch nur durch motivirte Tagesordnung – nun den berliner Beschluß für ungültig erklärt hat, war eine Nothwendigkeit; sie konnt ihre Souveränetät, zumal sie kein gutes Gewissen gegen Oesterreich hatte, nicht selbst morden. Daß sie dieß aber  j e t z t  beschloß, ist ein Verhängniß, daß sie vielleicht nur zu bald bitter bereuen wird als eine schwere Schuld.
J e t z t, wo jede Stunde das Wort zur Contrerevolution in Potsdam reifen kann; j e t z t, wo der Absolutismus von Gottes Gnaden, der nicht geradezu mit seiner Willkür der Volksvertretung entgegentreten mag, nur auf einen  p o p u l ä r e n  Anlaß, nur auf eine  G e l e g e n h e i t wartet, das kaum verhaltene Wort: ich sanctionire nicht! Zum erstenmal zu sprechen! – j e t z t  giebt die Nationalversammlung den Reiz und Anlaß, unter dem edlen revolutionär gesetzlichen Schild der deutschen Einheit – den Stoß zu führen, der die Demokratie ins Herz treffen soll!
Ihr Beschluß lockt, das erste protestirende Wort zu sprechen, dem nur der Geschützdonner des Bürgerkriegs den vollen Klang und nur der Belagerungszustand von Berlin die Unverletzlichkeit verschaffen kann! Und wenn  o h n e  diese Mittel, dann desto schlimmer, dann ist es eine  m o r a l i s c h e  Niederlage der demokratischen Partei.
So oder so! dem Absolutismus ist nun weit das Thor geöffnet, durch das er heuchlerisch als Diener des Gesetzes, als Beschützer der deutschen Einheit, den langersehnten Triumphzug an der Spitze seiner treuen Garden halten kann.
Was im Namen der  F r e i h e i t  geschah, pflegt man an Frankreich zu lernen; für Deutschland scheint das Blatt der Geschichte vorbehalten: was alles im Namen der  E i n h e i t  geschah.


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