Rheinfahrt im August
Der August des
Jahres 1846 geizte nicht mit wunderbaren Sommertagen. Theodor stand am Fenster
seiner Studierstube und betrachtete den Sonnenuntergang über der Grotenburg.
Mit der leichten Bewegung der zart angehauchten Wölkchen träumte er sich über
den Horizont hinaus bis an den Rhein. Märchenhafte Bilder und Farben kamen ihm
ins Gedächtnis. Erinnerungen an sanft ansteigende Weinfelder, Burg Rheinstein
hoch über der Flusswindung, der schroffe Loreleyfelsen im Abendlicht,
glitzernde Wellen im Ufersand und der Gedankenaustausch mit Menschen, die
genauso dachten und fühlten wie er und die gleichen Hoffnungen hegten.
Einige Tage später machte er seinen Traum wahr und
fuhr an den Rhein, wo er jetzt, sechs Jahre nach dem hoffnungsvollen
Studienbeginn, eine Zeit der heftigen Auseinandersetzung mit den
gesellschaftlichen Gegebenheiten seines Vaterlandes erlebte. In Köln traf er
sich mit zwei Redakteuren der Kölnischen
Zeitung, und zwar mit Levin Schücking und Karl-Heinrich Brüggemann, dem er
zwei Jahre zuvor in Waßmanns Lokal in
Berlin nach seiner ersten politischen Rede begegnet war. Mit seinem Freund
Gottfried Kinkel saß er hoch über dem Fluss mit Blick auf das Siebengebirge, um
festzustellen, dass die Rheingegend noch genauso schön war wie drei Jahre zuvor
und dass dennoch so vieles verändert war. Nachdem Gottfried Kinkel die
geschiedene Künstlerin Johanna Mockel geheiratet hatte, war er für eine
Lehrtätigkeit in der theologischen Fakultät war untragbar geworden und lehrte
nur noch im Fach Kunstgeschichte.
Mit dem Dampfboot fuhr Theodor in Etappen flussaufwärts
nach Bingen. Von dort aus unternahm er eine Wanderung entlang der Nahe bis nach
Kreuznach, wo er bei den Begegnungen mit Menschen den Eindruck hatte, er stoße
mit jedem Schritt an eine faule Frucht
der Geschichte. Die krassen Gegensätze zwischen bestens ausgestatteten
Kurgästen auf der Kreuznacher Promenade und den schwitzenden Arbeitern mit
zerschundenen Händen in den Weinfeldern waren ihm unerträglich. Von Kreuznach
aus wanderte er weiter und hinter Bad Münster am Stein bergauf zur Ebernburg.
Beim Gang zwischen den Ruinen fühlte er sich um einige Jahrhunderte
zurückversetzt in die Reformationszeit, als der Burgbesitzer Franz von
Sickingen, Freund des Volkes und von Martin Luther, hier gewohnt und entgegen
allen Anfeindungen seiner Fürstenkollegen verfolgten Reformatoren Asyl gewährt
hatte. Auch Sickingens gleichgesinnter Freund, der Dichter Ulrich Hutten, war
für lange Zeit dort oben untergekommen. Diese besondere Bedeutung verschaffte
der Burg den Beinamen Herberge der
Gerechtigkeit.
Eine weitere Unternehmung führte den
vierundzwanzigjährigen Wanderer in das wildromantische, zerklüftete Wispertal.
Stundenlang ging er allein, umgeben nur von der großartigen Natur, die doch
klüger war als die Menschen, die es nicht fertig brachten, diese Großartigkeit
auch denen zugänglich zu machen, die in Hütten hausten. Welch ein Widerspruch! In dieser Profeteneinsamkeit fochten
die Gedanken in seinem Kopf einen fürchterlichen Kampf, der dann in
leidenschaftlicher Empörung mit Feder und Tinte zum Ausbruch kam. In den
sechsundneunzig Strophen von Eine
Rheinfahrt im August erinnerte der Autor an die hochfliegenden Hoffnungen
auf Freiheit und Gerechtigkeit, zeigte das schwache
Elend der vielen, die sich abquälten, damit wenige alle Reichtümer besäßen,
und stellte fest, das fluchbeladene
Metall richte nur Unheil und
Blutvergießen an. Geld solle man besser im Rhein versenken wie den
Nibelungenschatz. Gleichzeitig war dieses Gedicht eine Hymne an den mächtigen
Fluss, der ruhig und unbeirrt seinen Weg nahm. An alle dem hatte der Rhein ja
keine Schuld. Er war der ungekrönte König und auf ihm ruhten seine Hoffungen
auf bessere Zeiten. Die Zukunftsvision von Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit
beherrschte Theodors gesamtes Denken, Fühlen und Handeln. Für die
Verwirklichung dieses Ideals würde er alles geben. Als wollte er diesen Vorsatz
besiegeln, taufte er sich eines Abends an einer Uferstelle selbst mit klarem
Rheinwasser.
Ende
September 1846 wurde Eine Rheinfahrt im
August mit dem Untertitel Den
Kölnern, den Schleswigholsteinern, Allen die den Rhein lieben gewidmet gedruckt,
auch diesmal wieder beim Schünemann Verlag in Bremen. In dem Zusammenhang erfolgte eine Einladung von den Redakteuren der Weser-Zeitung, deren Verleger ja auch
Schünemann war. Man wollte den jungen Literaten, der seit zwei Jahren
regelmäßig brillante Texte für ihr Blatt lieferte, persönlich kennenlernen und
mit ihm über eine ständige Mitarbeit in der Redaktion reden. Das waren
attraktive Aussichten und eine Übersiedlung nach Bremen hatte zudem wegen der
Erinnerung an die jahrelange Tätigkeit von Großvater Dräseke an der dortigen
Gemeinde St. Ansgarii einen ganz besonderen Stellenwert. Drei Tage brauchte die
Miethskutsche durch Sand- und
Heidewege. Das Gespräch fand statt, doch die Redakteure der Weser-Zeitung waren keinesfalls in allen Punkten mit Theodor
einig. Seine politischen Ziele gingen weit über das hinaus, was eine
Tageszeitung in Bremen sich leisten konnte. Man einigte sich auf eine
befristete Mitarbeit, zunächst für ein halbes Jahr. Der Vertrag sollte sofort
in Kraft treten.
Doch dann traf Theodor Althaus das Missgeschick
gleich in zweierlei Weise. Er wurde ernsthaft krank und war monatelang nicht
arbeits- und noch weniger reisefähig. Und noch schlimmer war, dass die Rheinfahrt vom Oberzensurgericht Preußen
verboten wurde. Schünemann wurde aufgefordert, die Vertreibung der Schrift
sofort zu stoppen, andernfalls würden gegen das Verlagshaus Sanktionen erfolgen.
Eine schriftliche Eingabe des Verfassers an den preußischen Innenminister blieb
trotz glänzender Argumentation ohne Erfolg. Schünemann distanzierte sich von
Althaus, um weiteren Schwierigkeiten
mit den preußischen Behörden aus dem Weg zu gehen. Man verschob das
Inkrafttreten des Vertrages bis auf Weiteres. Die Zusammenarbeit in der
bisherigen Art und Weise wurde jedoch beibehalten und es erschienen weiterhin
Artikel von Althaus in der Weser-Zeitung,
unter anderem einer über seine Gedanken bei der Wanderung auf die Ebernburg.
"Rheinfahrt im August", Kapitel aus:
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