Montag, 11. Juli 2016

1847: Literatenleben in Leipzig



Nach der literarischen Bestandsaufnahme seiner bisherigen schriftstellerischen Arbeiten hatte Theodor Althaus Ende Juni 1847 endlich den Absprung aus der lippischen Residenz geschafft. Wie musste der Außenseiter der Detmolder Gesellschaft sich gefühlt haben, als er im Konversationszimmer des Museums in Leipzig, vor sich ein Töpfchen Bier, seine Zeitung las, ohne dass hinter seinem Rücken getuschelt wurde. Diese Enge hatte er hinter sich gelassen und war umgezogen in die sächsische Messe- und Buchhandelsstadt. Nirgends gab es so viele Schriftsteller, Verleger und Buchhändler wie in Leipzig. Und die vier Männer ihm gegenüber auf dem Diwan machten ihm den Eindruck, als gehörten sie zu dieser Branche. Als einer aufstand, um zu gehen, hörte Theodor einen Namen, der ihm bekannt war. Er folgte dem blonden Mann auf den Platz vor dem Museum und fragte ihn, ob er vielleicht Dr. Arnold Ruge sei. Ja, es war der fünfundvierzigjährige Hochschullehrer und Schriftsteller mit bewegter Vergangenheit einschließlich Festungshaft als politischer Gefangener und vergeblichen Versuchen, in verschiedenen Städten von Deutschland Fuß zu fassen. In der sächsischen Literatenmetropole hatte er für sich, seine Frau und vier Kinder als Verleger eine Existenz gefunden. Ruge mochte den jungen Detmolder und ließ ihn an familiären Unternehmungen teilnehmen, wie Baden an heißen Tagen und Spaziergängen in die dörfliche Umgebung, wobei Theodor den Verleger Otto Wigand und Familie kennenlernte, in dessen Wigands Vierteljahrsschrift er zwei Jahre zuvor seine Abhandlung über den Detmolder Dichter Ferdinand Freiligrath publiziert hatte.
Diese Kreise waren es dann auch, die dem Schriftsteller aus der lippischen Provinz erste honorierte Tätigkeiten im Literatur- und Kulturbetrieb verschafften. So schrieb er eine Charakteristik von Nikolaus Lenau für Arnold Ruges Die politischen Lyriker unserer Zeit und Rezensionen zur Gegenwartsliteratur in verschiedenen Organen, wie zu Heines Atta Troll in Blätter für literarische Unterhaltung, von Heinrich Brockhaus herausgegeben. Wigand vermittelte ihm den Auftrag, den historischen Roman Le Piccinino von George Sand zu übersetzen, Ruge band ihn in seiner Weltgeschichte für die Jugend“ ein und Robert Blum, den er im Redeübungsverein kennenlernte, bat ihn, an seinem Staatslexikon für das deutsche Volk mitzuarbeiten. Für Blums Lexikon schrieb er Artikel zu den Begriffen Christenthum Cultus (Cultusministerium) und Demagog (Demagogie, demagogische Umtriebe) mit entsprechender Akzentuierung seiner politischen Überzeugungen.
Außer mit interessanter literarischer Arbeit war das Leben von Theodor Althaus in Leipzig ausgefüllt mit lebendiger Geselligkeit. Im Café français begegnete er den gleichaltrigen österreichischen Dichtern Moritz Hartmann, Eduard Mautner und Alfred Meißner, die sich in der sächsischen Stadt aufhielten, um den unerträglichen Spionier- und Zensurpraktiken von Staatskanzler Clemens Lothar Fürst Metternich zu entgehen. Er lernte Ignaz Kuranda und Julian Schmidt von den Grenzboten  kennen und Julius Fröbel, der ihn von allen neuen Bekannten am meisten beeindruckte. Der zweiundvierzigjährige Fröbel wohnte seit einem Jahr in Dresden. Vorher hatte er als Professor für Mineralogie in Zürich gelehrt und nach dem reaktionären Züriputsch am 6. September 1839 das Literarische Comptoir gegründet, in dem er oppositionelle Texte verlegte und auch in Deutschland verbreitete, wie die von Georg Herwegh und Hoffmann von Fallersleben. Als der Verlag verboten wurde, schlugen Otto Wigand und Arnold Ruge ihm vor, nach Leipzig zu kommen. Dort bekam er jedoch keine Aufenthaltserlaubnis. Mit großem diplomatischem Geschick gelang es Fröbel, sich in Dresden niederzulassen. Er kam nun regelmäßig nach Leipzig in das Verlagsbüro von Ruge, mit dem er eng zusammenarbeitete.
Theodor Althaus fühlte sich stark angezogen von dem so ruhig und souverän agierenden Mann, der sich während der gemeinsamen Unternehmungen zu einem wahren Freund entwickelte. Julius Fröbels soeben im Verlag von J. P. Grohe, Mannheim erschienene Publikation System der socialen Politik  fand seine uneingeschränkte Bewunderung, war sie doch aus der gleichen Motivation entstanden wie die Zukunft des Christenthums, dem Streben nach einem Zusammenleben in Freiheit und Liebe auf der Grundlage der Menschenrechte und Volkssouveränität. Jedoch im Vergleich zum Feuereifer seines jugendlichen Ungestüms fand Althaus bei dem älteren Freund eine sachlich klar entwickelte Systematik, was ihn zutiefst beeindruckte und seinen vollen Respekt gewann. Fröbels Werk war bereits die zweite Auflage, die erste war ein Jahr zuvor, aus guten Gründen anonym, unter dem Titel Neue Politik von C. Junius herausgekommen.
Bei einem Landspaziergang im Kreis um Fröbel und Ruge hatte Althaus die Gelegenheit, mit dem Dramatiker Friedrich Hebbel zu fachsimpeln. Sie redeten über das historische Drama, von Hölderlins’s Empedokles über Shakespeare und Goethe bis Grabbe, von dem Hebbel nicht allzu viel hielt. Wenige Tage später traf er ihn wieder im Café français. Hebbel war fürchterlich verärgert über eine kritische Rezension seines Werkes von Julian Schmidt in den Grenzboten, die er gerade gelesen hatte. Der jungen Frau Hebbel gelang es schließlich, ihren Fritz zu beruhigen, indem sie ihm eine Tasse Kaffee bestellte. Du fragst nach Hebbel, schrieb Theodor am 17. August 1847 seiner Schwester Elisabeth, der hat allerdings seine harten Seiten, an denen man sich die Zähne ausbeißen könnte, als dass man ihn von einem Fehler überzeugte. Guten Rath nimmt er absolut nicht an. Ich merkte das auf der Stelle und redete mit ihm also bloß von den Sachen, wo ich ziemlich mit ihm übereinstimmte. […] Er muß Glück haben in der Wahl seiner Stoffe; wenn er dies Glück einmal hat, kann der Effect sehr groß werden, die Maria Magdalena ist ein Anfang dazu.
Eine weitere Verbindung knüpfte er zu dem drei Jahre älteren Historiker Heinrich Wuttke, der an der Leipziger Universität Vorlesungen hielt. Am 19. Oktober 1847 wanderte er früh am Morgen zusammen mit ihm in südöstlicher Richtung aus der Stadt hinaus über Feldwege, vorbei an Gebüsch, durch stille Dörfer, dann durch eine lange Pappelallee hinauf zur höchsten Erhebung dieser Gegend. Auf diesem Hügel hatten vierunddreißig Jahre zuvor die verbündeten Monarchen Kaiser Franz I. von Österreich, Kaiser Alexander I. von Russland und König Wilhelm III. von Preußen gestanden, die Kampfhandlungen der Völkerschlacht verfolgt und am Abend des 19. Oktober 1813 die Nachricht vom Rückzug der Truppen Napoleons entgegen genommen. Zur Erinnerung an diesen wichtigen Sieg hatte man auf dem Monarchenhügel ein pyramidenförmiges Denkmal aus Sandstein errichtet, das an jenem Tage eingeweiht wurde.
Über das Ereignis verfasste Theodor Althaus einen Artikel für die Bremer Weser-Zeitung, in dem er die Organisation und vor allem die Rede von Superintendent Großmann heftig kritisierte. Die Feier sei nicht dazu angetan gewesen, die tausend Anwesenden anzusprechen und auf das Wichtigste zu lenken, nämlich dass es ein Sieg der Kämpfer auf dem Schlachtfeld war und nicht das Verdienst von drei Monarchen im Glauben an Gott, wie der Redner weismachen wollte. Mit Wuttke war Althaus einig, dass eine Rede von Robert Blum die richtigen Akzente gesetzt hätte. Ja, es hätte sogar schon seine Anwesenheit gereicht. Eine Feier für das Volk sei diese Einweihungsfeier nicht gewesen. Sein Fazit: Aber wenn an einem solchen Siegestage des Volks, das Volk nur wie das Publikum zum allerhöchsten Fest, nur wie Staffage um den Thron, den es doch allein wieder aufgerichtet hat, erscheint: dann wird es doch selbst im Herbste zu dumpf und schwül in der deutschen Luft. Fort, fort von hier!
Als der Artikel Das Denkmal auf dem Monarchenhügel in Leipzig am 24. Oktober 1847 im Sonntagsblatt zur Weser-Zeitung erschien, war Theodor die Aufmerksamkeit in der Stadt Leipzig gewiss. Die Empörung bei den Verantwortlichen war so groß, dass er schon fürchten musste, ausgewiesen zu werden. Seine Freunde im Museum und Café dagegen beglückwünschten ihn zu diesem klaren politischen Statement. Ignaz Kuranda war so begeistert, dass er auf ihn zukam mit der Bitte, unbedingt für die Grenzboten zu schreiben. Einige Tage später beim Schillerfest merkte er dann noch einmal, dass er sich in den oppositionellen Kreisen etabliert hatte. Seit 1840  wurde dieses Fest jährlich von Robert Blum und dem von ihm gegründeten Schillerverein organisiert. Als der Detmolder Querdenker abends den von Menschen dicht gefüllten Festsaal im Hôtel de Pologne in der Hainstraße betrat, wurde er mit stürmischem Beifall empfangen. Und wie zu besten Zeiten als Burschenschaftler, hielt er eine Rede vor hunderten Festgästen.
Die Dinge liefen gut in Leipzig. Für die Weser-Zeitung schrieb Althaus eine Artikelserie zum aktuellen Bürgerkrieg  in der Schweiz, einer Auseinandersetzung zwischen den im Sonderbund vereinten katholisch konservativen Kantonen und protestantisch-liberalen Kräften. Die Sonderbündler fühlten sich in ihrer Freiheit unterdrückt, doch die andere Seite, die sogenannte Tagsatzung hatte die Mehrheit im Lande und nach Althaus' Auffassung somit das Recht, sich gegen die Minorität durchzusetzen. Das müssten auch die deutschen Philister begreifen. Für den Schriftsteller Theodor Althaus ging es ebenfalls voran. Eine Auswahl seiner Prosatexte hatte er zu einer Anthologie mit sieben Erzählungen zusammengestellt als Zeitbilder, denen Erlebnisse und Visionen auf den Wanderungen am Rhein, Detmolder Lokalkolorit, die Problematik einer Auswanderung nach Amerika und schließlich das brisante Mätressenabenteuer des bayrischen Königs Ludwig I. zugrunde lagen. Der ein Jahr jüngere Wilhelm Jurany wollte die Mährchen aus der Gegenwart verlegen und so gingen Althaus und Jurany eines Tages gemeinsam mit dem Manuskript zum Zensor, um eine Druckerlaubnis zu bekommen. Bei einem preußischen oder österreichischen Zensor hätte es sicherlich eine Menge Beanstandungen gegeben, doch das ganz tractable kleine Männchen in Sachsen forderte nur Namensänderungen in der Erzählung Ein Freiheitstanz, eine Satire auf die Affäre des bayrischen Königs Ludwig I. und seiner attraktiven Geliebten Lola Montez, als spanische Tänzerin bekannt. Das Werk erschien unter dem Titel Mährchen aus der Gegenwart im Verlag von Wilhelm Jurany in Leipzig.
Gegen Ende des Jahres stellte er auch das Manuskript des ersten Teiles seiner Weltgeschichte für die Jugend fertig, in dem er Altertumsgeschichte in 35 Geschichten nach Begriffen zum Beispiel von Alexander, Brutus und Cäsar  für Kinder ab zehn Jahren verständlich aufgeschrieben hatte. Und was wäre Leipzig ohne die Anbindung an den musikalischen Bereich? Die fand er in der Bekanntschaft zu Dr. Franz Brendel, Professor am von Felix Mendelsohn-Bartholdy gegründeten Conservatorium und Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik. Auch zu Frau Brendel entwickelte er Sympathien und war nun häufig im Brendel’schen Hause zu Gast, wo auch etliche andere junge Künstler verkehrten. Dort lernte er den Dramatiker Wolfgang Robert Griepenkerl aus Braunschweig kennen, mit dem er einerseits herrlich streiten konnte und zu dem er andererseits eine gewisse Wesensverwandtschaft entdeckte. Griepenkerl sei verrückt, schrieb er seiner Schwester, jedoch auf eine positive Weise: … erstens ist es die gute Verrücktheit, die neue Gedanken aufstöbert und sie nur verrückt einseitig, allmächtig, auffaßt – und zweitens, wie Strauß sagt, wird für’s erste Keiner dem Publicum gefallen, der ganz auf der Höhe steht; Schlechte Aussichten für unsereinen, nicht wahr?
Über den Besuch einer Aufführung von Mendelsons Elias im Gewandhaus berichtete er seiner Mutter, dass er weniger des Genusses willen dort gewesen sei, sondern weil man dergleichen doch kennen müsse. Die künstlerische Gestaltung fand vor seinem kritischen Geist keine Gnade: Ich hatte mir’s nicht als möglich gedacht, einen solchen Mangel an aller hohen künstlerischen Einheit, an allem innerlichst musikalischen Sinn und Verstand, in einem so vergötterten Künstler zu finden. Er sah zwar auch schöne Stellen in dem Stück, doch für ihn war der Inhalt nicht dazu angetan, Darsteller und Zuschauer im Herzen zu berühren. Wie bei der Einweihungsfeier auf dem Monarchenhügel war ihm die Gleichgültigkeit gegenüber den Notwendigkeiten der gegenwärtigen Wirklichkeit unerträglich.
Schneller als die zähen Jahre in Detmold vergingen ihm die Monate im Leipziger Trubel. Das Jahr ging zu Ende und er hatte außer einer Kurzreise im Herbst nach Dresden, wo er sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt ansah und Julius Fröbel traf, die Stadt Leipzig nicht verlassen. Zum Weihnachtsfest reiste er dann nach Detmold, wo er auch den Jahreswechsel und die ersten Tage des neuen Jahres verlebte. Nach den arbeitsreichen und anregenden Monaten zuvor kam ihm die Ruhe in der beschaulichen Residenz vor wie ein germanischer Winterschlaf.




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