Am 20. März 1848 erreichte er gegen
Mittag Berlin. Es war ein seltsames Szenario in der Stadt. Männer, Frauen und
Kinder liefen zwischen Barrikaden und herausgerissenen Pflastersteinen. Die
meisten feierten einen Sieg. Doch andere suchten verzweifelt nach vermissten
Angehörigen.
Theodor ging von Kirche zu Kirche,
schaute in die jungen Gesichter der dort aufgebahrten Toten, die schrecklichen
Wunden, die stille Siegesgewissheit in den bleichen Zügen. Auf der Straße
sprach er die Menschen an, hörte ihre Berichte über die Ereignisse der Nacht
von Samstag auf Sonntag und setzte das Puzzle zusammen über die friedliche
Versammlung vor dem Schloss, die Proklamation des Königs, laute Rufe aus der
Menge, die Forderung nach Abzug der Soldaten, zunehmende Unruhe, plötzlich ein
Schuss von irgendwoher, noch ein Schuss und dann der fürchterliche Sturm.
Unaufhaltsam tobte der in Straßen und auf Plätzen. Alle machten mit beim Bau
der Barrikaden, vom einfachen Tagelöhner und Handwerker bis zum Beamten,
Studenten, Arzt und Advokaten. Frauen, Kinder und Greise waren dabei. Mit allen
Mitteln kämpften sie, beschafften Material für den Barrikadenbau, besorgten
Waffen, gossen Kugeln, steckten deutsche Fahnen auf, Frauen versorgten die
Kämpfenden mit Speisen und Getränken. Unaufhörlich tönten die Sturmglocken in
der Stadt. Die ganze Nacht. Bis zum nächsten Morgen. Bis kein einziger Soldat
mehr zu sehen war.
In einer Kirche fand er ein stilles
Plätzchen, wo er ungestört verweilen konnte. Nachdem er sich ein wenig gefangen
hatte, zog er Papier und Feder aus der Tasche und schrieb einen Artikel für die Weser-Zeitung.
Das war er den Toten schuldig. Ihr mutiger Kampf durfte nicht umsonst gewesen
sein.
Es war schon dunkel, als er am
Abend vor dem Haus des Großvaters in Potsdam stand. Obwohl das Fenster des
Balkonzimmers hell erleuchtet war, musste er lange auf Einlass warten. Später
erfuhr er den Grund. Dräseke war vor Übergriffen von Aufständischen gewarnt
worden und die im Hause Anwesenden, des Großvaters jüngere Tochter, Enkelin
Elisabeth aus Detmold und ein Diener, fürchteten den dunklen Mann an der Tür
und waren heilfroh, als es dann der älteste Enkel war. Der berichtete von den
Spuren der Berliner Horrornacht, bevor er sich völlig erschöpft zurückzog.
Elisabeth machte sich Sorgen und folgte dem Bruder in sein Zimmer. Der hatte
sich schon ins Bett gelegt. Sie erinnerte sich: Ich setzte mich zu ihm und
sah nun erst, wie verändert, wie von Erregung und Schmerz durchwühlt seine Züge
waren.
Am nächsten Tag war Theodor dabei,
als König Friedrich Wilhelm IV. mit schwarz-rot-goldener Armbinde durch die
Straßen von Berlin ritt und vor Studenten der Berliner Universität eine Rede
hielt, wobei er sich zu der verheißungsvollen Formulierung hinreißen ließ: Preußen
geht fortan in Deutschland auf. Und er nahm am 22. März auf dem
Gendarmenmarkt an der Trauerfeier für die 183 Toten teil, folgte dem
unbeschreiblich langen Leichenzug mit den bekränzten Särgen, zunächst bis zum
Schloss, wo sich der preußische König Friedrich Wilhelm IV. auf Verlangen des
Volkes mit gezogenem Hut vor den toten Revolutionären verbeugen musste, dann
vor die Tore der Stadt zur Beisetzung auf dem eigens eingerichteten Friedhof
der Märzgefallenen auf einem Hügel in Friedrichhain. Der Leichenzug.
Die seidenen, schwarzrothgoldenen Trauerfahnen […] nach den Thränen stumpfte
sich alles ab. Zu lang. Die anarchische Schwüle über Berlin, notierte er
im Tagebuch.
Er sei ein Mann geworden, meinte
Großvater Dräseke und da hatte er recht. Die harte Konfrontation mit den
menschlichen Tragödien, die rohe Gewalt gegen die eigenen Brüder, Söhne eines
Volkes, hatten ihn in tiefster Seele getroffen. Der Weg würde ein harter und
steiniger werden. Die faulen Früchte der Geschichte waren mächtiger,
als er es sich in seinen idealen Vorstellungen ausgemalt hatte. So einfach
fielen die nicht in sich zusammen. Wie sonst wäre es möglich, dass Soldaten als
Spielzeug eines konzeptlosen Monarchen mit vorgeblicher
Gottes-Gnaden-Legitimation ein so schreckliches Blutbad anrichteten?
Althaus' Artikel erschien
unter der Überschrift Die Berliner Revolution am 22. März 1848 auf
der Titelseite der Weser-Zeitung. Er hatte den historischen Stellenwert
des Geschehens als Bluttaufe der deutschen Freiheit erkannt und eine
überaus sensible Würdigung des leidenschaftlich entschlossenen Kampfes gegen die
starre Willkürherrschaft des schwachen preußischen Königs verfasst: Die giftige
Saat, die Untergrabung alles Vertrauens, das schwankende Spielen zwischen der
persönlichen Willkür und den gerechtesten Forderungen des Volkes, die
Demoralisation der höchsten Staatsgewalten, welche sich durch den Schein und
die Heuchelei eine erträumte Macht zu sichern wähnten, ist nun so blutig
aufgegangen. Deutschland wird den achtzehnten März dieses Jahres nie vergessen.
Auf der Rückfahrt nach Leipzig war
von anarchischer Schwüle nichts mehr zu spüren. Deutsche Fahnen
wehten auf den Bahnhöfen und viele Menschen trugen Bänder in Schwarz-Rot-Gold.
Nach den Aufständen in Palermo, Paris, Wien, Baden und Berlin gingen die
Menschen auf die Straße, wo sich die Empörung über die Knechtschaft der
vergangenen Jahrzehnte entlud. Der Anbruch einer neuen Zeit wurde gefeiert, ein
deutscher Frühling. Aus Furcht vor weiteren Unruhen erteilten die Könige und
Fürsten in den Ländern eiligst Lockerungsregelungen von den Karlsbader
Beschlüssen, wie Friedrich Wilhelm IV. in Preußen, Friedrich August in Sachsen
und Ernst August in Hannover mit beschwichtigenden Proklamationen, Aufhebung
von Pressezensur und Versammlungsverbot, Ministerien wurden eiligst
ausgewechselt und Versprechungen gemacht hinsichtlich Bürgerwehren anstelle von
gehorsamem Militär.
Althaus' Freunde in Leipzig hatten
unterdessen nicht geschlafen. Robert Blum hatte auf dem Marktplatz vor
Hunderten Zuhörern vom Balkon des Rathauses eine bejubelte Rede gehalten, in
der er den Rücktritt der sächsischen Regierung forderte und dafür plädierte,
das derzeitige Soldatentum abzuschaffen und alle Bürger zu bewaffnen, damit man
mit den jungen Brüdern Hand in Hand gehen könne. Arnold Ruge hatte Die
Reform gegründet, ein Organ für eine breite Leserschaft mit dem Ziel, bei allem
Enthusiasmus über die errungenen Erfolge Klarheit in das Chaos der
verschiedenen Meinungen, Begriffe und Sprachregelungen zu bringen.
Auf der großen politischen Bühne
hieß es jetzt zügig handeln, damit das durch die revolutionären Erhebungen
gewonnene Potential nicht verpuffte. Einundfünfzig Männer hatten bereits
Vorarbeit geleistet. Auf Einladung von Johann Adam Itzstein aus Hallgarten
waren sie zusammen gekommen und hatten am 5. März 1848 die sogenannte Erklärung
der Heidelberger Versammlung formuliert, in der sie auf Vorschlag von
Theodor Welcker sieben Mitglieder benannten, die für alle Länder des Deutschen
Bundes eine Nationalvertretung vorbereiten sollten. Dieser Siebenerausschuss tagte
am 12. März 1848 und brachte eine Einladung an die Ständemitglieder und eine
Auswahl von Vertrauensmännern aus allen Ländern zu einem Vorparlament auf den
Weg. Das berufene Gremium sollte die Grundlagen zur Wahl der Mitglieder einer
gesamtdeutschen Nationalversammlung schaffen und am 31. März 1848 in
Frankfurt zusammen kommen.
Im Wohnzimmer von Robert Blum tagte
wieder ein kleiner Kreis, um vor seiner Abreise nach Frankfurt zur Teilnahme am
Vorparlament die dort zu vertretende politische Richtung zu besprechen. Man
diskutierte wild durcheinander und kam stundenlang nicht auf den Punkt, bis
schließlich der Hausherr das Wort ergriff und kurz erklärte, wo es lang gehen
sollte. Wer konnte das besser einschätzen als Blum? Er hatte als jahrlanges
Mitglied des Hallgartenkreises sowie des Leipziger Stadtparlaments
den Überblick, genoss das Vertrauen der Bevölkerung und war ein Meister der
Rede, der Organisation und der Beschaffung von Mehrheiten nach demokratischen
Prinzipien. Seine Überzeugungskraft suchte ihresgleichen. Wenn er sprach, hörte
jeder zu. Das stellte auch Althaus an jenem Abend in Blums Wohnung bewundernd
fest.
Das Vorparlament mit 574
Teilnehmern tagte vom 31. März bis zum 3. April 1848 in der Frankfurter
Paulskirche. Es sah seine Aufgabe darin, die Art und Weise der Bildung einer
parlamentarischen Nationalversammlung mit dem Ziel der Erarbeitung einer
Verfassung für ganz Deutschland festzulegen und wählte aus seinen Reihen einen
Fünfzigerausschuss, der in Absprache mit der Bundesversammlung den Wahlmodus
für die Mitglieder der Nationalversammlung festlegen sollte. Robert Blum
gehörte diesem Fünfzigerausschuss an. Die Leipziger Angelegenheiten regelte er
während seiner Abwesenheit zusammen mit Vertrauten aus der Entfernung. Auch
Theodor gehörte dazu. Blum wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte.
Seinem Schwager und engem Mitarbeiter Georg Günther schrieb er am 13. April
1848: Wenn Althaus etwas schreibt, dann ist das gewiss gut, und ich bin im
voraus damit einverstanden.
Der Detmolder Pfarrerssohn befand
sich plötzlich auf einem für ihn völlig fremden Terrain. Da ihm geographisch
gesehen die politische Heimat fehlte, engagierte er sich nun in Leipzig. Neben
der Mitwirkung an Ruges Reform arbeitete er beim neu gegründeten
Vaterlandsverein mit, formulierte das politische Programm und stellte es in den
umliegenden Ortschaften, zum Beispiel in Volkmarsdorf und Lindenau, in
Referaten den Menschen vor. Das gefiel ihm sehr, allerdings meinte er, es
könnte noch besser werden. Zwar fühlte er sich angenehm erinnert an seine Zeit
als Prediger und Referent in der lippischen Heimat, doch in diese Welt der
Politik mit Meinungsbildung, Formulierung von Programmen und dem Bemühen um
Wählerstimmen musste er sich noch einarbeiten: Ich freute mich, o seit wie
lange wieder einmal an meiner eigenen Stimme, noch nicht an der Rede.
Außerdem versuchte er in
politischen Gremien Einfluss zu nehmen. Zusammen mit Musikprofessor Brendel
erarbeitete er im Namen des Tonkünstlervereins eine Bittschrift an die Stadt
Leipzig für mehr Förderung von Kunst im öffentlichen Leben. Und er verfasste
Aufrufe zur Mitgliedschaft im Verein, die er auch an weiter entfernt wohnende
Freunde und Bekannte schickte, wie Tischlermeister Cord Wischmann in Bremen und
Advokat Karl Vette in Detmold. Vette fing den Ball gleich auf und hatte die
Idee, Althaus als Kandidat des Fürstentums Lippe für die Nationalversammlung in
Frankfurt vorzuschlagen. Fast zu gleicher Zeit setzte auch der Vaterlandsverein
ihn auf die Kandidatenliste für Sachsen. Theodor machte sich nichts vor. Seine
Chancen waren gering. Wie sollte es ihm gelingen, in zwei Wochen die Menschen
davon zu überzeugen, dass er ihre Interessen für ein freies Deutschland in
Frankfurt gut vertreten würde? In Sachsen war er ein unbekannter junger Schriftsteller
aus dem Ausland. Die Menschen im Erzgebirge würden eher jemanden aus
ihrer Gegend wählen. Arnold Ruge, Robert Blum und Georg Günther hingegen hatten
gute Chancen, in die Nationalversammlung gewählt zu werden. Sie würden die
Stadt verlassen und die nächsten Monate in Frankfurt verbringen. Was sollte er
dann überhaupt noch in Leipzig? Er entschied, die Kandidatur in Lippe
anzunehmen. Auch wenn er sich dort gegen den Detmolder Gymnasialdirektor
Schierenberg kaum Chancen ausrechnete, sagte er sich, im Gegensatz zur
Aristokratie gehöre es zum Wesen der Demokratie, sich um Mehrheiten zu bemühen
und auch unterliegen zu können und das Mehrheitsvotum zu akzeptieren.
Renates Blog: Renates 18. März in Berlin
Bildquelle: Straßenkämpfe am Alexanderplatz in Berlin im Jahr 1848 während der Deutschen Revolution, gemeinfrei bei Wikipedia
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