Dienstag, 26. Februar 2013

Zeitbilder 1840 - 1850


Die Zeit des „friedlichen Wühlen’s“ war vorbei, als Theodor Althaus durch das Kreuzgitter seiner Zelle im „Staatsgefängniß vor dem Cleverthor“ in Hannover zuschaute, wie der Rauch seiner Zigarre „in hübschen blauen Wölkchen hinaus in die Freiheit“ wirbelte. Er befinde sich nun, wie es einem guten Patrioten anstehe, genau in demselben Zustande wie sein Vaterland, in einer „provisorischen Gefangenschaft“, schrieb er am 17. Mai 1849 den besorgten Eltern und Geschwistern nach Detmold.

In seinem demokratischen Verständnis stellte sich die Frage: Wer war in diesem Lande legitimiert, ihn wegen Staatsverrats anzuklagen? Doch nicht diejenigen, die seine Verhaftung verfügt hatten, hatte er doch nichts anderes getan als die in mühsamem Ringen um Meinungen und Mehrheiten verabschiedete Verfassung einzufordern. Dass die „provisorischen“ Ankläger über die nötigen Machtmittel verfügten, ihn gefangen zu halten, betrachtete er als sein Schicksal. „Ich fühle mich hier dem Zufall und der Gewalt gegenüber.“, notierte er im seinem Tagebuch.
Alles hatte er gegeben, um an der Zukunft eines demokratischen deutschen Staates auf der Grundlage von Volkssouveränität und Pressefreiheit mitzuarbeiten. Wenn ihm dennoch in seinem geliebten Land kein Standort in Freiheit beschieden war, blieb ihm nichts anderes übrig als die Gefangenschaft anzunehmen. Er nutzte die Zeit, sich selbst wieder zu finden und seine Gedanken aufzuschreiben. Mit der im Jahre 1850 in Bremen erschienenen Schrift „Aus dem Gefängniß. Deutsche Erinnerungen und Ideale“ übergibt er der Nachwelt einen eindrucksvollen Bericht über seinen eigenen und den Zustand des „armen, armen Vaterlandes“.
Trotz unermüdlichen Schaffens als Prediger, Rezensent, Journalist und Autor zahlreicher Schriften, Erzählungen und Gedichten gelang es Theodor Althaus offensichtlich nicht, über die Kreise von Gleichgesinnten hinaus bekannt zu werden, wie Georg Herwegh mit seinem  Zyklus „Gedichte eines Lebendigen“ oder Julius Fröbel mit der Schrift „System der socialen Politik“. Jedoch ist es bemerkenswert, dass die Zensurbehörden bereits durch eine seiner ersten Publikationen auf ihn aufmerksam wurden, als er im Hungerjahr 1846 angesichts der Diskrepanz zwischen einer faszinierenden Landschaft, auf deren fruchtbarem Boden es eigentlich Brot für alle geben müsste, und der Kluft zwischen wenigen Besitzenden und bitterer Armut eines Großteils der Bevölkerung zu dem Schluss kam, Geld sollte man besser im Rhein versenken. Seine „Rheinfahrt im August“ wurde gleich nach dem Erscheinen verboten. Bereits ein Jahr zuvor hatte er sich mit seinem Artikel im Sonntagsblatt der Weserzeitung „Detmold am Jubeltag des Fürsten“ in das gesellschaftliche Abseits der lippeschen Residenz manöwriert.
Selbst wenn ihm scharfer Wind ins Gesicht blies, ließ er von Überzeugungen nicht ab. Schon als Student distanzierte er sich von den Bonner Kommilitonen, die um des eigenen Vorteils willen gegenüber den Professoren Zustimmung heuchelten, während er über Prinzipien wie Volkssouveränität und Pressefreiheit längst nicht mehr diskutierte, sondern „gleich derb“ zu werden pflegte. Beispielhaft für seine Haltung mag die Auseinandersetzung im theologischen Seminar sein, bei der er trotz heftiger Konflikte mit Professor Nitzsch, dem der Inhalt seiner Examenspredigt („Der Werth eines öffentlichen Wirkens für das Gute“) zu wenig christlich erschien, nicht einen Schritt zurückwich. Dass er trotzdem ein glänzendes Examen ablegte, zeigt nur, dass wir es mit einem hochintelligenten, hellwachen jungen Mann zu tun haben.
Selbstbewusst hielt er im darauf folgenden Monat die umstrittene Predigt in der Detmolder Stadtkirche. Mit seiner Vorstellung auf der Kanzel im April 1843 ließ er eine junge Frau aufhorchen, die sich ebenfalls nicht gedankenlos anpassen wollte und andere Perspektiven für ein Frauenleben suchte als in der aristokratischen Gesellschaft ihrer Zeit für sie vorgesehen waren. Malwida von Meysenbug wurde von der Kühnheit des Auftretens und der ungewöhnlichen Frische seiner Gedanken nachhaltig beeinflusst. Sie erinnert sich in ihren Memoiren:
"...Eines Tages sagte man mir, dass der älteste Sohn meines Religionslehrers, der sich gerade während der Universitätsferien zu Haus befände, am folgenden Sonntag in der Kirche predigen würde, da er Theolog sei wie sein Vater. Ich ging zur Kirche, um zu sehen, was aus dem blassen stillen Knaben, den ich einst im Zimmer seiner Mutter hatte arbeiten sehen, geworden sei. Nach dem Gesang der Gemeinde, welcher der Predigt vorausgeht, stieg ein junger Mann, in schwarzem Talare, auf die Kanzel, beugte das Haupt und verblieb einige Minuten in stillem Gebet. Ich hatte Zeit ihn anzusehen. Er war gross wie sein Vater, aber sein Kopf hatte einen Typus, der in jenen Gegenden, wo er geboren war nicht häufig ist. Sein Gesicht war bleich mit scharf geschnittenen, edlen Zügen, wie man sie bei den südlichen Rassen findet. Lange und dichte schwarze Haare fielen ihm bis auf die Schultern; seine Stirn war die der Denker, der Märtyrer. Als er zu sprechen begann, wurde ich sympathisch berührt durch den Klang seiner tiefen, sonoren und doch angenehmen Stimme. Bald aber vergass ich alles andere über den Inhalt seiner Predigt. Das war nicht mehr die sentimentale Moral, noch die steife kalte Unbestimmtheit der protestantischen Orthodoxie, wie beim Vater. das war ein jugendlicher Bergstrom, der daherbrauste voller Poesie und neuer belebender Gedanken. Das war die reine Flamme einer ganz idealen Seele, gepaart mit der Stärke einer mächtigen Intelligenz, die der schärfsten Kritik fähig war. Das war ein junger Herder, welcher, indem er das Evangelium predigte, die höchsten philosophischen Ideen zur Geschichte der Menschheit entwickelte. Ich war auf das tiefste und glücklichste bewegt..."
Auch der Großvater, Bischof Dräseke, zeigt sich vom Inhalt der Predigt tief beeindruckt, wenn er von „Genialität der Textauffassung“, „Schriftmäßigkeit des Inhalts“ und „Durchsichtigkeit des Gedankens“ schreibt. Sein Brief an den Enkel ist zudem ein Indiz dafür, dass Theodor Althaus bei allem, was er tat, in seiner Familie bedingungslos Rückhalt fand.
Als engagierter Theologe setzte sich der junge Prediger intensiv mit den Praktiken der beiden großen Religionsgemeinschaften auseinander und erkannte schon bald, dass er in keiner ein religiöses Wirken nach seinen Vorstellungen verwirklichen konnte. Was nützten den Menschen kirchliche Rituale und die vermeintliche Aussicht auf Erlösung nach dem Tod, wenn sie auf der Erde in Elend und Not lebten? Diese Gedanken sah er nicht vordergründig politisch, vielmehr rückblickend auf das Urchristentum, als Streben nach einem gerechten Miteinander in Freiheit und Liebe. Das war für ihn nur möglich, wenn alle ein menschenwürdiges Leben hatten, ein Ansatz, der ihm häufig von ignoranten Kritikern den Vorwurf bescherte, ein „Rother“ zu sein.
Im vormärzlichen Leipzig war der junge Intellektuelle aus Detmold dann unter Gleichgesinnten. Er knüpfte Kontakte zu Mayer, Ruge, Wigand und Robert Blum, traf Julius Fröbel, Hebbel und die österreichischen Literaten Mautner, Hartmann, Meißner und Kuranda. Der rege Literaturbetrieb der Stadt ermöglichte ihm, dass er „ganz anständig sein Brod verdienen“ konnte durch eine Vielzahl von Aufträgen. Er schrieb Rezensionen, Übersetzungen, Beiträge zu Publikationen sowie Presseartikel, die auch in den liberalen Organen in Köln, Augsburg und Bremen gedruckt wurden.
Wie für alle, die auf einen baldigen Umschwung in Deutschland hofften, begann auch für Theodor Althaus das Jahr 1848 mit einer Kette von Ereignissen, die in einen nie gekannten Freudentaumel mündeten, die Lichter von Palermo am 12. Januar und die Sturmglocken von Notre Dame am 24. Februar. Doch spätestens das Drama des 18. März 1848 in Berlin brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Anblick der Märzgefallenen, die seidenen Trauerfahnen in schwarzrotgold und „die anarchische Schwüle über Berlin“ mussten in dem sensiblen jungen Mann tiefe Spuren hinterlassen, wurde ihm doch drastisch vor Augen geführt, wie rücksichtslos die Machthabenden gegen Andersdenkende vorgingen. Elisabeth Althaus erinnert sich, wie sie ihren Bruder am Abend nach dem Gang durch die Stadt erlebte: "…Er war, von äußerster Erschöpfung getrieben, schon zu Bette gegangen. Ich setzte mich zu ihm und sah nun erst, wie verändert, wie von Erregung und Schmerz durchwühlt, seine Züge waren. Noch sehe ich seinen Kopf mit den schwarzen Locken auf dem weißen Kissen liegen und in der allmälig kommenden Ruhe eine Verklärung, aber wie eine Verklärung des Todes, sich über seine Züge breiten. Er erzählte von den Gefallenen, die in den Kirchen ausgestellt waren, damit die Angehörigen sie finden und erkennen könnten. 'O', rief er aus, 'diese feste, stille Siegesgewißheit auf den jungen Gesichtern - und dann die Wunden, die tödtlichen Wunden!'"
Die Faszination der Aufbruchstimmung auf Straßen, Plätzen und Bahnhöfen im ganzen Land konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, wie lang und steinig der Weg in die Freiheit noch werden würde. Nur in besonnenem Handeln sah er eine Chance das Ziel zu erreichen und beobachtete mit Sorge ungeduldige Poltergeister, die alles von heute auf morgen herumreißen wollten und durch übereilte Aktionen leichtfertig politisches Kapital verschenkten.
Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er vom Strudel der auf- und abwogenden Entwicklungen mitgerissen wurde und im Laufe des Jahres 1848 in ein unvorstellbares Dilemma schlitterte. Die Misere begann mit dem misslungenen Bemühen um ein Mandat im Frankfurter Parlament, setzte sich fort im Scheitern einer Zusammenarbeit mit der „Weserzeitung“ und endete im Desaster um seine Leitartikel zu Eckernförde und dem Mord an Auerswald und Lichnowski, was zum Zusammenbruch der von ihm redigierten „Bremer Zeitung“ führte. Mit der Gründung der „Zeitung für Norddeutschland“ in Hannover bekam er noch eine Chance, bemerkte aber nicht, wie er immer weiter in die Mühlen seiner Gegenspieler hineingeriet, die dann auch bei nächster Gelegenheit zuschlugen, etwas mehr als ein Jahr nach den strahlenden Märztagen im Frankfurter Frühling und fast zeitgleich mit dem Scheitern der Nationalversammlung.
Wie konnte es so weit kommen? Wollte er ein Märtyrer sein? War ihm entgangen, wie stark die Reaktion inzwischen wieder geworden war? Warum hatte er nicht bemerkt, wie sich das Unwetter über ihm zusammenbraute? In seinem Resümee, formuliert er selbst in dem Zusammenhang das Stichwort „Anarchie der Seelenkräfte“. Zweifelhaft, ob er sich mit dieser Erklärung zufrieden geben konnte. Vielleicht dachte er auch darüber nach, ob es nicht besser gewesen wäre, nach dem Prinzip der Besonnenheit hin und wieder einen Schritt langsamer zu gehen. Vorstellbar, doch wir wissen es nicht.
Die Entlassung aus dem Staatsgefängnis Hildesheim am 15. Mai 1850 überlebte er um knapp zwei Jahre. Er konnte seine vor- und nachmärzliche Schaffensphase nicht fortsetzen, schon allein, weil die seit Jahren schleichende Krankheit erbarmungslos Macht über seinen Körper gewann. Das hoffnungsvolle Talent wurde nicht einmal dreißig Jahre alt.
Auf den Spuren von Theodor Althaus in seiner Heimatstadt finden wir das Geburtshaus in der Bruchstraße 2, das Pfarrhaus unter der Wehme sowie die Marktkirche mit der Kanzel, auf der er im Jahre 1843 seine bemerkenswerte Predigt gehalten hatte. Im Vergleich zu Ferdinand Freiligrath und dem im gleichen Jahr geborenen Georg Weerth ist er in Detmold weitgehend unbekannt.
Mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod zeichnet sein jüngerer Bruder Friedrich Althaus ein detailliertes Portrait in "Theodor Althaus. Ein Lebensbild". Auf der Basis eigener Erinnerungen sowie Theodors Schriften, Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, wie auch des Tagebuchs und Jugenderinnerungen der Schwester Elisabeth Althaus (später Lewald) dokumentiert er in liebevoller Zuneigung diese „verheißungsvolle, tragisch schöne Laufbahn…“ und setzt dem geliebten Bruder ein biographisches Denkmal.
"Ob es der Mühe wert war, die Gestalt des früh geschiedenen Th. Althaus...aus dem Schatten hervorzuholen...Sein weit vorausgreifender Geist berührt uns  jedenfalls seltsam nah.", schreibt Dora Wegele im Vorwort zu ihrem im Jahre 1927 erschienenen Werk "Theodor Althaus und Malwida von Meysenbug. Zwei Gestalten des Vormärz".
Es kostet zwar anfangs (aber nur anfangs!) Mühe, die zum Teil weit ausschweifenden Phantasien und Gedanken in den Texten von Theodor Althaus nachzuvollziehen und zu verstehen, aber der Leser wird hineingezogen in einen facettenreichen Bilderreigen aus dem turbulenten Jahrzehnt von 1840 bis 1850. Da sitzt der rehabilitierte Bonner Professor Arndt am grünen Tisch und begrüßt die neuen Studenten, in Berlin droht ein Fackelzug für die Brüder Grimm im Netz der preußischen Polizei und später im Schnee zu versinken, Hoffmann von Fallersleben gibt in einer Kneipe politische Lieder nach dem Motto „Deutschland ohne Lumpenhunde“ zum Besten und wird aus der Stadt ausgewiesen. Der Autor führt uns auf die sonntägliche Promenade einer kleinen deutschen Residenz und „Ein Idyll“ auf der Grotenburg weckt unwillkürlich Gedanken an die Bergpredigt aus dem neuen Testament. Die schöne Tänzerin Lola Montez liegt vor den faszinierten Blicken des alternden bayrischen Königs auf dem Diwan und „klätschelt“ mit ihrer kleinen Reitpeitsche ihr rechtes Bein. Mal grob-, mal feingemalt sehen wir Heines Tendenzbären „Atta Troll“ auf dem Marktplatz von Cauterets und in seiner Höhle in den pyrenäischen Bergen. Dabei versäumt der Autor es nicht, mit spitzer Feder die Blicke unter glatte Oberflächen zu lenken. So begleiten wir einsame Wanderer mit ihren Erinnerungen, Träumen und Alpträumen in ihre „Profeteneinsamkeit“, erleben mit, wie sie sich von den Erscheinungen der sie umgebenden Natur überwältigt fühlen wie von einem unfassbaren Weltgeist und sind am Ende mit der hoffnungslosen Misere in den Hütten konfrontiert. Schließlich erleben wir einen angeschlagenen Rebellen hinter vergitterten Fenstern, der über die Gründe des Scheiterns nachdenkt. Die seit Jahrzehnten angesammelte revolutionäre Kraft war in seinen Augen nicht nur deshalb verpufft, weil die Reaktion so rasch wieder erstarkt war, sondern auch, weil niemand der herausragenden Männer es geschafft hatte, in Frankfurt die progressiven Bestrebungen zu bündeln. Blum war in Wien zum Märtyrer geworden, Kinkels Energien waren durch berufliche Querelen im Zusammenhang mit seiner Heirat zu sehr gebunden, Gagern hatte die Badener Aufständischen im Stich gelassen und somit die gemeinsame Sache verraten. Für Theodor Althaus wäre sein Freund Julius Fröbel der richtige Mann gewesen, doch das hatten wohl die meisten zu spät erkannt.
Seinen Traum von einem Leben in Freiheit und Liebe konnte der junge Stürmer aus Detmold nicht mehr verwirklichen. Mit seinen Schriften, Briefen, Erzählungen und Gedichten hinterlässt er die Ergebnisse seines umfangreichen Schaffens, die weit größere Beachtung verdient haben als ihnen bisher zuteil wurde. Die Berichte und Gedanken von Theodor Althaus wirken noch immer erstaunlich frisch, seine Botschaften und Visionen haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt.
Renate Hupfeld

Vorwort aus: Theodor Althaus, Zeitbilder 1840 -1850 und erhältlich im Aisthesis Verlag Bielefeld



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