Samstag, 12. November 2016

Erinnerungen an Gottfried Kinkel



Als Volkswehrmann, in der Bluse, mit verwildertem Bart, ein Tuch um das verwundete Haupt geknüpft: so nahmen sie ihn nach dem Gefechte bei Muggensturm gefangen und führten ihn nach Karlsruhe. Wie manche Nacht zog die Gestalt erschütternd an meinem Blick vorüber! Dann das heimliche Gericht, dann das Ende: er ist frühmorgens heut im Walde erschossen! Dann nach dumpfen Schmerzenstagen der Widerruf, und wochenlang die streitenden Gerüchte von Begnadigung und Todesurteil. Die Seele wurde damals zuletzt wie starr und gefühllos in den Zeiten der Qual, wo man mit so manchen Freunden mehr als einmal sterben, dann die Mauer der ungewissen Entscheidung erdulden, und endlich, wenn sie gefallen war, so oft in trostlose Öde ohne Hoffnung der Auferstehung hinblicken mußte. Wie eine Gnade war es, wenn der letzte Befreier, der Tod, die Brust erleichterte.
An Kinkel ging er vorüber. Ihm erschien das höhnische Antlitz jener Begnadigung, gegen die das österreichische Begnadigen zu Pulver und Blei sich wie sanfte Menschlichkeit darstellte; die Gnade, welche ihm widerfuhr, zu ewiger Zuchthausstrafe, mußte auch im gehärteten Herzen noch einen Aufschrei der ohnmächtigen Wut erwecken. Da saß er nun in Naugard in der halbdüstern, unterirdischen Zelle, im Sträflingsanzug, Wolle spulend!
Diese Jahre haben harte Schicksale gesehn, aber vielleicht wenig so jähe Wandlungen als diese, denn wer, der den Dichter gekannt, konnte sich ihn in einer andren Welt denken, als in der klaren, heitren Sonnenwelt, aus der seine ganze Natur recht wie geboren und ernährt war! Ein helles Zimmer, kunstsinnig ausgeschmückt, froh belebte Gesellschaft, und draußen eine anmutige Landschaft mit warmen Farben um und im geliebten Rhein: das war die Umgebung, an der er sich so lange gefreut hatte, weil seine Natur sich da in ihrem Elemente fühlte. Und dann womöglich Neueres und Schöneres, wenn das liebe Alte ausgenossen war. „Ich muß fort von hier“, sagte er mir vor wenig Jahren in Bonn, „Ich habe diese Gegend nun ausgesehn, erst wenn ich ein paar Stunden weit laufe, sehe ich wieder Formen und Farbentöne.“ – Was wird dies geistvolle Auge noch sein, wenn es Jahre lang die Linien seiner Zelle und die öden Farben des spärlichen Tageslichtes ausgesehen hat?
Er ist kein Dichter des Brütens in der Einsamkeit: dort wird er selbst es fühlen, daß nur in flüchtig verrauschender Stimmung auch dunkle dämonische Saiten seiner Seele lyrisch erklangen. Früher mochte es scheinen, als würde sein düstrer Genius sich aus einem Gefängnisse mit seltsamer Befriedigung eine von außen lautlose, aber innerlich glühende brausende Heimat schaffen, wie im Krater eines Vulkans. Er selbst gefiel sich zuweilen in solcher Anschauung seines Charakters, wie er ihn auch einmal in einer Ode dem lichten friedlichen Genius eines Freundes gegenüberstellte. Doch wenn solche Äußerungen zuerst durch den Kontrast mit der ganzen Erscheinung des Menschen überraschten, so fand der tiefere und verweilende Seelenblick nur eine Bestätigung des ersten Urteils darin. Eben weil der Dichter so ganz dem heitren Tage und seiner Lebensfülle angehörte, weil alle Kräfte in ihm so instinktartig zur Harmonie strebten, neckte es ihn, wenn ich so sagen soll, daß der dunkle dämonische Ton nur flüchtig und leise in diese Harmonie einklang; und wenn er ihn lebhaft anschlug, so war es nur die freie Phantasie, welche dem Menschen so oft seinen eignen Charakter gleichsam zu ergänzen sucht, indem sie hier einen stärkeren Schatten, dort ein helleres Licht in sein Urbild malt. Es ist sehr schmerzlich, so genau zu wissen, daß Kinkels Natur ihm von dieser Seite sein Schicksal nicht erleichtern, sondern es nur bitterer empfinden lassen kann. Sein dichterisches Schaffen ist nicht jenes Versenken in die unergründlichen Schachte des Innern, aus denen die melancholischen Naturen oft so blaß und tiefsinnig wieder mit ihren äußerlich unscheinbaren Schätzen zur Oberwelt steigen; nein, er braucht dazu unablässig Aug’ und Ohr und den ganzen Reichtum neuer Anschauungen des bunten Lebens, und frische Anregungen, aus diesem immer wieder ergänzten Stoffe seine Bilder zu wählen. Bis in seinen Stil läßt sich dies Naturell verfolgen. Da liebt er die alten derben Kernwörter, meidet das akademisch zugeschnitten und philosophisch abstrakte, sucht neue Bildungen, und selbst als seine letzte Entwicklung ihn schon vielfach gereift und geklärt hatte, quoll dennoch immer wieder der alte Überreichtum des farbigen und tönenden Redeschmucks hervor, als wollte er, um die gesamte Lebensfülle zu fassen, auch für die Sprache das erobern, was nur der Musik vergönnt ist. Seine Natur gehört nicht zu den vulkanischen, sie ist eine neptunische, wie die Goethe’s, der sich darum „ein Kind des Friedens“ nannte. – Und doch derselbe Mensch ein Sohn der Revolution, „der grimmen, lichterlohen“?
Man würde es leicht mit diesem Naturell in Einklang bringen, wenn er durch den letzten Hülferuf des Vaterlandes aufgeweckt, als treuherziger Kämpfer für die Reichsverfassung sich mit in den Strudel hätte reißen lassen. So war es aber nicht. Hatte Kinkel doch schon, wie er von der Tribüne in Berlin stolz und kurz erklärte, unter dem Donner der Junischlacht die rohe demokratischsoziale Republik proklamiert! Und von ihm, schon ehe die Pfalz sich rührte, waren jene drohenden Worte vom Kampf auf Leben und Tod gesprochen, welche nachher den „Bluthunden der Reaktion“ zur Losung dienten, seinen Tod zu fordern,  jene Schlußworte: „siegen wir, dann wehe Euch! Keine Gnade!“ – Das alles würde man ferner sehr begreiflich finden, wenn er ein fahrender PoetLiterat gewesen wäre, ohne Familie, ohne Amt, ohne Heimat, der im Revolutionsrausch nur Abenteuer und poetischen Stoff hätte gewinnen, und durch Tendenz und Tat nichts hätte verlieren können. Aber wie viel hat er im Gegenteil geopfert!
Wer aus Kinkels geistiger Bildung die Erklärung holen will, wird noch mehr erstaunen. All ihre Wurzeln scheinen erst recht fest in den konservativen Boden getrieben zu sein, und man würde von einer solchen Bildung vielmehr umgekehrt behaupten mögen, daß sie dem nicht revolutionären Charakter ihres Trägers erst den rechten Halt gebe. Eine vorherrschende Neigung zum Mittelalter, zu altdeutscher Dichtung und Geschichte; verhältnismäßig geringe Bekanntschaft mit der modernen französischen Entwicklung; entschiedne Abneigung gegen philosophischen Radikalismus; diese Richtungen dauerten weit über die Jugendperiode, in seine letzte Zeit hinein. Wenige Dichter haben solchen Einfluß auf ihn geübt, wie der konservative preußische Immermann, und seine ganze Betrachtung der Geschichte blieb wesentlich auf dem künstlerischen Standpunkt; weit entfernt von jener Geschichtsphilosophie, aus der so viele sich Waffen und Leidenschaften für eine revolutionäre Zukunft holten. Alle Gelehrten von einer Bildung, wie wir die eben skizzierten, sind reaktionär geblieben oder haben sich doch bei Zeiten salviert; allen Poeten von ähnlicher Richtung waren die Bassermann’schen Gestalten eben nur eine neue brauchbare „Gestalt“, und die Revolution überhaupt wesentlich nur neues Material zum Denken und Dichten. Wo faßte die Revolution denn gerade diesen Mann, und riß ihn so gewaltig gerade unter ihre blutrote Sturmfahne?
Mitten in das warme Herz des gesunden Menschen, des ganzen Mannes, griff sie hinein! Aber dem einseitig verkümmerten Geschlecht von heute scheint es wie eine Fabel, daß Sophokles und Äschylus, vor deren olympisch reiner Harmonie es noch immer bewundernd steht, auch Soldaten und Feldherrn waren! Und nur mit der Phantasie kann dieses blasse Poetengeschlecht es sich vorstellen, daß der männliche Dichter, eben weil er zur höchsten Harmonie in seinen Schöpfungen strebt, auch den Nerv der Tat in sich zucken fühlt und jener Allgewalt der Begeisterung, von der er so oft gesunden, endlich auch selbst ins Leben folgt.
Das einfache Gefühl der Guten findet eine ähnliche Erklärung schon aus der bloßen Tatsache, und wendet dem Dichter herzliche Teilnahme zu. Die Phantasie der meisten von ihnen wird sich natürlich nur den allgemeinen Charakter dieses Schicksals ausmalen; und was Kinkels frühere Freunde schrieben, blieb auch meist auf der Oberfläche und bei den erklärenden Worten: Leidenschaft, Begeisterung und Ehrgeiz, als Quelle seines Entschlusses. Ich freue mich des besseren Trostes, die Entwicklung des Freundes einigermaßen zu überschauen. Es ist immer ein leidiger Trost; aber wenn Zorn und Schmerz endlich matt geworden sind und doch das Herz noch immer nicht von dem traurigen Bilde lassen kann, fühlt es sich wohl beruhigt, wenn der Kopf einmal sich mit dem geistigen Bilde der Persönlichkeit beschäftigt. Die alte Panacee: von dem was wir leiden zu reden und das was wir lieben, uns zu vergegenwärtigen.
Vor dreizehn Jahren, als Kinkel, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, das theologische Katheder in Bonn bestieg, und in den nächstfolgenden Jahren war er ein so politischunschuldiger Mensch, wie nur je einer in der orthodoxen Schule erzogen ist. All seine künstlerischen Neigungen und Anfänge schienen den Theologen der rheinischen Universität nur als schöne Zugaben für ein talentvolles Rüstzeug der Kirche des Herrn; er war der erklärte Liebling der aristokratischgelehrten Gesellschaft. Ihm selbst konnte der Nationalismus für seinen poetischen Sinn nicht die Fülle großer geschichtlicher Bilder und mystisch glühender Farben gewähren, wie er sie in der Orthodoxie fand, und da er der Philosophie überhaupt ferner stand, so konnte es geschehn, dass er zu derselben Zeit, wo Bruno Bauer explodierte, harmlos noch seine orthodoxen Hefte vortrug. Sein Geist und sein Herz waren damals aber schon nicht mehr dabei; denn während die Neigung zur Geschichte und Kunst immer mächtiger aus der bald ausgepreßten Theologie hervorwuchsen, hatte ein Schicksal, das er selbst sich wie ein Mann schuf, ihn auch dem persönlichen Einflusse seiner alten Lehrer und Kollegen gänzlich enthoben. Die edle geniale Frau, der seine glühende und glückliche Liebe sich zuwandte, war von einem katholischen Gatten getrennt, aber als Katholikin natürlich geschieden und frei. Gegen diese Liebe eiferte die pharisäische Seelsorge der Bonner Theologen mit aller Macht ihrer bornierten Orhodoxie, und an diesem Konflikte reifte Kinkel zum Manne, der die ganze Entscheidung nicht scheute. Er wurde ein Geächteter in den Kreisen, wo er früher der Liebling gewesen war, und nicht bloß das System, dem er bisher anhing, offenbarte sich ihm in seiner Blöße, sondern mit voller Herzensleidenschaft brach die Empörung gegen die gesamte Lebensanschauung, deren Hülle er bisher sorglos mitgetragen hatte, hervor. „Ihr, die die heilige Glut stets nur als Flamme des Herdes gekannt, wißt nicht, wie sich die Liebe belohnt!“ Die Trennung der Kirche vom Staat ist vielleicht sein erstes politischradikales Dogma gewesen; im Übrigen machte er den gemächlichen konstitutionellen Fortschritt der ganzen öffentlichen Meinung mit.
Die Gesellschaft, zu der er eine Zeitlang regelmäßig die kleine Zahl seiner Zuhörer nebst einigen nichttheologischen Freunden vereinigte, manchen Herzen als ein Ideal akademischen Verkehrs unvergeßlich, gab in ihrer Unterhaltung deutlich zu erkennen, wie weit der, welcher mit aller frohen Anmut seines Naturells ihre Seele war, noch ein Theolog genannt werden konnte. Auf dem Poppelsdorfer Schlosse, im Angesicht der reizenden Landschaft bis zum Siebengebirge hin, hallte das hohe Zimmer sehr selten von theologischen Disputationen wieder; weit öfter von der herrlichen Stimme des Virtuosen im Vorlesen von Gedichten und in freier Schilderung poetischer und plastischer Kunstwerke. Kunst und Poesie, die großen Gedanken der Humanität, zuweilen auch Politik, hielten die Freunde bis Mitternacht im lebhaftesten Gespräch zusammen; und die wenigsten ahnten, welch einen bitter ernsten Hintergrund die heitren Scherzworte hatten, die der Wirth wohl einmal über das frugale Leben der Privatdozenten hinwarf. In jener Zeit kämpfte Kinkel, sich eine gesicherte Existenz zu erringen, und er erwarb sich damals das Recht, nachher in einer seiner stürmenden Reden zu sagen: „Wir haben das Darben gründlich gelernt, wir werden auch noch die kurze Frist aushalten!“
Nach Jahren gelang es ihm, eine außerordentliche Professur der Kunstgeschichte zu erhalten und rasch reifte ihm nun die Ernte heran, die er ausgesät. Seine poetischen und wissenschaftlichen Arbeiten fanden Anerkennung, seine Kollegien waren gedrängt voll, die Vorträge vor einem gemsichten Publikum in Köln und Bonn gaben ihm Gewinn und neue Freunde; die Gesellschaft endlich, als sie die Liebe und Arbeit mit Erfolg gekrönt sah, huldigte wie immer diesem ihren Gotte, und die beiden Geächteten waren nun gefeiert und gesucht. Im reinsten Genusse des häuslichen Glückes, in voller Tätigkeit, allein den ursprünglichen Neigungen seines Geistes folgend, blickte Kinkel sich nun nach der alten Welt um   und sah, daß ihre Systeme und Anschauungen wie welkes Laub vor den frischen Trieben seines Lebensbaums abgefallen waren. Was andere in langem schweren philosophischen Kampfe sich erringen: die eine und ganze Freiheit, war ihm in stillem Werden gereift. In dem Maaß, wie er das Lebendige inniger an sein Herz schloß, wich das innerlich Tote, dessen Reste in den Winkeln seines Geistes fortvegetiert hatten, nun ganz fern zurück. Er war noch weder Sozialist noch Republikaner; aber auf dem von aller toten Konvention und allem theologischpolitischen alten Wust gereinigten Boden des freien Lebens, Forschens und Dichtens, konnte nun keine andre Theorie mehr naturgemäß wachsen, als die des freien Staates und der freien Gesellschaft. Die Prinzipien der Kunst und Ethik, schon in ihm festgewurzelt, brauchten bloß zur Tätigkeit auf den übrigen Lebensgebieten angeregt zu werden, um wie mit einem Schlag auch diese zu erhellen.
Als ich ihn einige Zeit vor der Revolution sah, schien er oberflächlich noch mit jener Genossenschaft verbunden, welche die volle Freiheit nur als ein Eigentum des künstlerischen und genießenden Privatmenschen anerkennt und vor den politischsozialen Konsequenzen ihrer eignen Prinzipien zurückschaudert; ich meine jene Gebildeten, welche ihm seinen Radikalismus verzeihen, weil er ein Dichter ist und ein Dichter alles darf. Von dieser letzten Romantik stammen auch die Entschuldigungen seiner Tat, welche sie lediglich als poetische Verirrung bezeichnen, in der Hoffnung, ihn einst wieder in das Reich des Indifferentismus zurückkehren zu sehen. Weil Kinkel aber, trotz leiser romantischer Anklänge in seiner Poesie, ein anderer Mensch war: darum wurde die Märzrevolution der Frühlingshauch, der alle Keime seines Innern in Licht und Leben rief.
Wie gern vermittelte seine Humanität gleichberechtigte Ansprüche und Absichten im Leben! Aber das gesunde Gefühl und die Gerechtigkeit, aus denen jene liebenswürdige Humanität ihm quoll, mußte sich eben so empören gegen das blasse feige Vermitteln zwischen ewigem Recht und Unrecht. Als die Zeit zu Taten rief, sprang er als Mann in die Reihe, und wofür sollte er, als Künstler, als Dichter denn anders kämpfen, als für das Reich der neuen Welt, dessen Gesetze in jenen Geisterreichen schon lange galten und dessen wirkliche Gründung eben darum erst die wahre irdische Heimat für Wissenschaft und Kunst erschaffen kann! Hatte nicht vor einem halben Jahrhundert schon Hölderlin aus den Griechen und ihren deutschen Nachfolgern das Geheimniß gelesen: „Die neue Theokratie des Schönen kann nur Raum finden in einem Freistaat?“ Was hat der moderne Dichter vor unsren Klassikern denn als sein eigenstes voraus, wenn nicht eben die, daß er sich als Bürger fühlt und jene irdische Heimat seiner Kunst mit erobern hilft! Mit solchen Gedanken ist Kinkel in die Revolution gegangen, an dies höchste und letzte Gut hat er sein Alles gesetzt,  nicht aber als fahrender Poet und Avantürier nicht wie ein Belletrist ein Abenteuer versucht, um nachher einen Roman darüber schreiben zu können.
Mit allen Schätzen seines Talents und seines Charakters, an denen bisher die gebildete Gesellschaft von Bonn sich erfreut hatte, trat er nun mitten unter das Volk wie in eine neue und doch heimatliche Welt. Seine Lust am Schauen und Beobachten aller Individualität und seine ursprüngliche Liebe zum rheinischen Volkscharakter hatten ihm lang, eh er an eine solche Wirksamkeit dachte, alle Mittel zu ihr gesammelt; mit leichter Sicherheit traf er den Ton und die Wünsche des Handwerkers, wie der Bauern und Proletarier. Diese Klassen waren es, welche bald in ihm ihren Führer verehrten, und deren Stimmen ihn später zum Deputierten wählten. Was waren die studentisch herkömmlichen Fackelzüge gegen das heitre improvisierte Geleit, wenn diese neuen Freunde ihn mit frisch abgebrochenen grünen Zweigen auf der Heimkehr von einem Spaziergang oder aus einem ländlichen demokratischen Verein, in ihrer Mitte triumphierend nach Hause begleiteten! – Nicht seine ganze Wirksamkeit jener Zeiten ist nur in persönlicher Erinnerung, oder in den kleinen Blättern der neuen Bonner Zeitung und später in den Berliner stenographischen Berichten aufbewahrt. Er schrieb damals ein kleinen Buch: „Handwerk, errette dich!“ Aus dem mag auch, wer ihn nicht persönlich kennt, sich eine Anschauung von Kinkels republikanischem Sozialismus zwischen den Zeilen herauslesen.
Kinkel gehört zu den bis jetzt noch selten öffentlich hervorgetretenen Charakteren, welche revolutionär werden, weil sie im tiefsten und allein edlen Sinne konservativ sind. Der vulgäre, abstrakte Konservatismus ist eine bloße Verneinung und stößt nach rechts und links hin alles von sich, was das Individuum in seinem geistigen, gemütlichen und materiellen Behagen zu stören droht. Der wahre Konservatismus ist eine tiefgewurzelte Treue gegen Vernunft und Freiheit in den philosophischen Charakteren, eine reiche unwandelbare Liebe zur freien gesunden Natur in den poetischen Charakteren. In der letzteren Reihe steht Kinkel. Gegen die bürokratische Willkür und das mechanische Zuschneiden des alten Systems, gegen die engen Einschränkungen und das schlechtfranzösische Zustutzen des ganzen politischsozialen Lebens, mit einem Wort: gegen diese feinselige destruktive Macht empörte sich in ihm die ursprüngliche Liebe zur heiligfreien Natur, zur unverkümmerten Entfaltung aller Individualität der einzelnen, der Gemeinden, der Arbeitsgenossenschaften, des Volkes und der gesamten Gesellschaft.
Wie die friedlichen conservativen Deutschen von 1813 gegen das ihnen revolutionär aufgedrungene fremde Wesen zu den Waffen der Notwehr griffen, um ihr eigenes konservativ zu behaupten, wie seine freie eigene Lebenswelt vom alten System zerstört werde, endlich der Sporn, dies „Kind des Friedens“ in den Kampf zu treiben. Schon in den ersten Tagen seines Aufenthalts in der Pfalz, als alles um und in ihm noch Hoffnung war, schrieb er in die Heimat jenen ergreifenden Brief, worin er als sein persönliches Ideal die Seligkeit eines einfach bürgerlichen Lebens in froher Tätigkeit des Denkens und Dichtens, so wahr bezeichnet und seinen Entschluß zum Kampfe nur aus der festen Überzeugung ableitet, daß allein die volle Befreiung des Volkes der Weg zu solcher vollen Lebensfreude für den einzelnen wie für alle sei. So ist auch sein Sozialismus im edlen Sinne konservativ. Seine ganze Natur protestierte gegen die öden Systeme des uniformiertenbürokratischen Kommunismus und der destruktiven Gleichmacherei, unter der das ewige Naturrecht der Individualität verschwindet. Den einzelnen und die durch freie Neigung zu gleicher Arbeit verbundenen Genossenschaften ruft er zu eigener Tätigkeit auf: „Handwerk, errette dich selbst!“ Sein sozialistisches Ideal in dieser Sphäre ist ein freier Organismus, dessen Gesetze die Selbstständigkeit des Individuums, die höchste Ausbildung aller Arbeitskräfte und jedes Handwerks in seiner Eigentümlichkeit zum Zweck haben. Der Handwerker soll auf eigenen Füßen stehn, statt von den fabrikmäßigen Spekulationen des Kapitals, wie jetzt, ausgebeutet und erdrückt zu werden. Die soziale Gesetzgebung soll es ihm möglich machen, ein Haus und eine Familie zu gründen, ein Meister und Lehrer seines Handwerks, statt ein entreprenierender Kapitalist zu werden. Erst von ihr hofft der Dichter dann eine Wiedergeburt der einigen edlen Erscheinung der mittelalterlichen Zustände, daß das Handwerk, so weit es seiner Natur gegönnt ist, hinüberreiche in die höhere künstlerische Tätigkeit und so der Gipfel dieser Lebensgestalt in die Lichtregion des Geistes und der Schönheit erhoben werde. Aber eben weil nicht alle Arbeit dieses Adels in ihrer Eigentümlichkeit fähig ist, muß allen der Stolz der republikanischen Freiheit, der geistigen Bildung und die Fähigkeit zum Erkennen und Genuß des Schönen erreichbar gemacht werden, damit auch der Geringste dann seines menschlichen Adels so froh werde, wie jetzt sein Pariathum ihm die Seele zum Staube drückt. Die Romantiker schaudern vor der Republik, weil ihre beschränkte Phantasie eine Nivellierung der Kontraste und Individualitäten und damit das Ausgehn des poetischen Stoffes fürchtet; die gesunde Phantasie des modernen Dichters schaut den Reichtum der neuen Welt und er fordert die soziale Revolution, damit endlich die vollbefriedigte Lust am Dasein die Seele der Poesie neu belebe. Er weiß, daß nur eine großartige neue Weltgestalt eine ihr ebenbürtige Poesie aus sich zeugen kann, die dann wahrhaft konservativ sein wird.
Über das rasche Werden dieser neuen Welt haben wir alle uns seit dem März wohl mehr als einmal getäuscht; wer wollte es dem Dichter verargen, wenn seine Phantasie seine Hoffnungen bestimmte! Auf den Höhen seiner Anschauung, wo er nur große historische Gestalten sah, zog auch die Gestalt eines mächtigen Führers ihm vorüber, als er sang:
„Wenn erst um uns die Pulverwolken nachten:
Dann kommt der eine, der befehlen kann!“
Die deutsche Geschichte war ärmer; mit bitteren Gefühlen mochte Kinkel sich dieser Worte erinnern, als die ganze Revolution zuletzt scheiterte, weil der eine fehlte, der befehlen kann.
Den Siegern aber wird ihr Plan nicht gelingen, den Gefangenen zu erniedrigen, um dann das Beispiel und die Talente des begnadigten Apostaten für ihre Zwecke nutzen zu können Sie begreifen das ganze Gewicht, welches Kinkel in die Wagschale der Revolution warf. Durch politische Kenntnisse und parlamentarische Beredsamkeit sind ihnen andere gefährlicher gewesen als er; daß aber ein Dichter, daß eine Persönlichkeit, die so edle aristokratische Eigenschaften glänzend in sich vereinigte, unter die rote Fahne trat, das verschmerzen sie schwer. Denn auch der regelmäßige Trost der Verdächtigung ist ihnen abgeschnitten; niemand glaubt an unlautere oder kleinliche Motive, wo er ein solches Opfer der Überzeugung gebracht sieht, wo ein Staatsamt, eine sichere Existenz, ein ganzes beneidenswertes Glück ohne Hoffnung auf persönlichen Gewinn an eine schwankende gefährdete Sache gesetzt wird. Die Rache ist umso unerbittlicher, je mehr der Märtyrer eine allgemeine Anerkennung und Teilnahme in der gebildeten Nation und nicht bloß innerhalb einer politischen Partei findet. Er wird dann nicht nur für das gestraft, was er tat, sondern auch für das, was er ist. Diese Art der Rache hat Methode, denn freilich wirkte er auch nicht bloß mit seinem Thun, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit.
So brachten sie Kinkel nach Naugard und entehrten sich selbst, während sie ihn zu erniedrigen glaubten. Als er sich zum erstenmal in der gemeinen Sträflingsjacke, in Sklaventracht mit kurz geschorenem Haar erblickte, ist ihm vielleicht seine eigene Gestalt von jenem Abend vorübergeschwebt, wo der vor Goethe’s Iphigenie versammelte auserwählte Kreis ihn als Orest im edlen griechischen Gewande sah? Als er im Kerker zum erstenmal erwachte, schien ihm die Wirklichkeit nicht wie ein wüster Traum? Den er hätte wegschmeicheln mögen mit jenen süßen Worten des halb schlummernden Orest:
Noch einen reiche mir aus Lethe’s Fluten
Den letzten kühlen Becher der Erquickung!
Bald ist der Traum des Lebens aus dem Busen
Hinweggespült   .
Nein, armer Orest! Du lebst und vor dir gähnt die unabsehbare Wüste, auf Lebenslänge! Wir sind noch gefesselt im öden Tauris. Wir zielten nach Ägith’s fluchbeladenem Haupte und trafen nur das arme Mutterland. Aber der Schlaf unserer langen Nächte ist sanft, denn die Eumeniden dieser Zeit umschweben andere Häupter als die der Besiegten und Gefangenen. 

Theodor Althaus erinnert sich: Aus dem Gefängniß. Deutsche Erinnerungen und Ideale (1850)

Bildquelle: Bernhard Höfling: Porträt Gottfried Kinkel, Druck, Köln, Kölnisches Stadtmuseum

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