Die RobertBlumLegion im badischen
Feldzuge! Wie ein Racheschrei aus dumpfer Ferne klang mir das Wort nur einmal
herüber; eine Erinnerung, kaum aufgetaucht und schon wieder von den Ereignissen
überflutet. Die Legion ist verschollen; wer hat von ihren Taten gehört? Sie
wurde in das unselige Chaos jener Bewegung mit hineingerissen und zersprengt,
ohne eine bleibende Gestalt im Andenken des Volks, wie ein zehntes Regiment
oder wie die Hanauer Turner gewinnen zu können. Dann, bald darauf unter der
preußischen Herrschaft, wart Robert Blum wieder genannt, als die giftigen
Stiche des Hasses den Toten noch über das Grab hinaus verfolgten: Gefängnis für
den Arbeiter, der das Bild des Volksmannes auf dem Pfeifenkopfe trug, Gefängnis
selbst für die Trauerschleife am Hut, deren stumme Sprache vergebens an den
Frieden der Toten und ihre Ungefährlichkeit mahnte! Es konnte nicht anders
sein; ergrimmt über die, welche ihn als rächenden Geist auferwecken wollten,
taten seine Feinde wie die alten Ketzerrichter, wenn sie die verehrte Asche in
den Wind streuen ließen. Und doch fanden sich noch immer Einzelne, die der
Drohung Trotz boten und die Strafe ertrugen. War er denn wie Hecker, die
Feuerzunge des jungen Ideals, Republikaner gewesen? Jeder glaubt, daß er es
war; aber vor welcher Versammlung hat er jemals die Republik gepredigt oder die
Fürstenvertreibung? Nie und nirgends! – So war euer Held denn einer von den
Schwankenden, die ihr verachtet? – Der Mann mit dem BlumHute erwidert nur zwei
Worte, um alle Verleumdungen zu widerlegen und alle Verehrung zu rechtfertigen:
„Er war ein Mann des Volks!“
Dem Bürger, der ihn abends unter
seinen Freunden beim Seidel Bier in vollster Behaglichkeit und gemächlich
langsamer Konversation sah, mußte unbedingt das ganze Herz aufgehen bei diesem
Ideale deutscher Wirtshausgemütlichkeit. Der Proletarier, wenn er den
mühseligen Weg des Kölner Küpersohnes von unten auf bis ins deutsche Parlament
beschrieben las, sah in ihm mit Befriedigung seines Gleichen, und wenn der Mann
aus dem Volke nun selbst auf der Tribüne vor ihm stand, im bequemnachlässigen
Anzuge, mit dem Hemdkragen ohne Halstuch, mit dem dichten Bart und Haupthaar um
das gerötete Gesicht: dann fühlte er unwidersprechlich: der gehört ganz zu uns!
Die Rede endlich erhob ihn und ließ den Redner in seinen Augen steigen, aber
wie dankbar war das große Publikum auch da für die unübertroffne wohltuende
Deutlichkeit und Klarheit des Vortrags! Die Gedanken gingen nie über das
Allgemeinverständliche in sentimentaler Ausschmückung und entsprechendem Tone
hinaus, und hell bis in alle Winkel und Enden drang diese Glockenstimme. Es war
insofern für Jeden eine Lust, ihn zu hören, und nach dem ermüdend ängstlichen
Horchen auf so manche andre Nichtredner, ging ein allgemeines Aufatmen durch
die Paulskirche, wenn Blum die Tribüne bestieg. Verwöhnte Ohren konnte auch er,
wie Glockengeläut, ermüden, obwohl er nie zu lang sprach; das Volk aber konnte
nicht satt werden, ihn zu hören. Was seine Lebensgeschichte, sein Ruhm und
seine Reden vorbereitet hatten, vollendete jedes Mal seine persönliche
Gegenwart unter dem Volke, während die Gebildeten oft von ihr enttäuscht
wurden. Die Letzteren konnten sich über den würdelosen Eindruck seiner
Erscheinung hinwegsetzen; die Massen empfingen dagegen mit Befriedigung diesen ganz
aufgeprägten Repräsentanten ihres eignen Charakters, und dem idealen
Bedürfnisse derselben genügte vollkommen seine Beredsamkeit, die von uns
gewöhnlich nur als gewaltiges Mittel zum Zweck der Massenwirkung bewundert
wurde.
Man hätte demnach meinen können,
zur Idealisierung und gar zum religiösen Kultus sei keine Persönlichkeit in
eminenterem Grade ungeeignet gewesen als eben Robert Blum. Wie mächtig im Volke
der dunkle Drang nach neuen Idealen und ihrer Verehrung ist, zeigte sich
überraschend, als im November 1848 die gedrängten Trauerzüge durch die
deutschen Städte zur Feier seines einsamen Märtyrertodes zogen. Die Choräle und
Gebete, bei denen wir doch manches frivole Haupt sehr ernst entblößt sahen,
hätten freilich nur dem Tode gelten können; aber die Redner sprachen ganz im
Sinne des Volks, wenn sie ihn verglichen mit allen Heroen und Märtyrern, bis
hinauf zu dem Galiläer, der für die Freiheit der ganzen Welt sein Blut gab. Und
wieder muß man gestehen, daß Blum, wenn er in einem ähnlichen Falle eine
Leichenrede zu halten gehabt hätte, in ähnlicher Weise geredet haben würde, und
die Tränen würden ihm aus vollem Herzen gekommen sein. Wer ihn auch nicht
persönlich kannte, wird doch aus seinen letzten Zeilen die charakteristische
Weichheit seines Herzens empfunden haben, und Niemand würde sich wundern, seine
Worte: „Alles, was ich empfinde, rinnt in Thronen dahin!“ in einem Psalm zu
lesen, statt in Blums Abschiedsbrief. Daß in fast allen seinen Reden die
moralische Anschauung ihren Platz neben der bloß politisch calculirenden fand,
mag man als ein Resultat seiner Bildung bezeichnen, aber diese Bildung war sein
geworden und eben so wenig berechnet als die große persönliche Gutmütigkeit und
Herzlichkeit seines Wesens. Viele haben ihn gehaßt; er selbst hat schwerlich
einen persönlichen Feind gehabt. Was er redete oder tat: der Mittelpunkt war
stets das Allgemeine, nur die Sache, der er so lange Jahre, länger und mehr als
die Meisten wissen, gedient hatte.
Aber ebenso war es eine, obgleich
äußerst gewöhnliche, doch durchaus oberflächliche Auffassung, wenn man die
unerschütterliche Ruhe seines Wesens und die selbst in gehobnen Augenblicken
nicht verschwindende Gemütlichkeit im Gespräch, und im Predigertone der Rede,
schlechthin als seinen Charakter bezeichnen hörte. Wer ihn außerdem listig und
intrigant nannte, blieb noch auf demselben Standpunkte. Nein, im tiefsten
Grunde seiner Seele, vom Phlegma überwachsen, von der zur andren Natur
gewordnen Selbstbeherrschung gezähmt, lagen die vulkanischen Stoffe eines glühenden
gewaltigen Hasses, der mit ihm begraben wurde, ehe eine Schicksalsstunde der
vollen Volksrevolution ihn wach gerufen hatte. Dieser Haß war noch etwas andres
als der reguläre abstrakte Despotenhaß; er drohte nicht bestimmten Personen und
floß nicht aus rein persönlichen Quellen, aber dennoch war etwas Persönliches
darin. Blum fühlte sich als den Repräsentanten des niederen, gedrückten,
verachteten und endlich aufstrebenden Volks. In Leipzig, in den friedlichen
Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, in die er sich den Eintritt errungen
hatte, schlummerte dies Bewußtsein. Die Revolution rührte es wieder auf, und
sobald sie durch eine große Wendung ihm nur die Wahl zwischen Bürgertum und
Proletariat gelassen hätte, würden wir ihn an der Spitze der Massen furchtbar
und unerbittlich, über die Rümpfe seiner Gegner hinschreiten gesehn haben. Nach
Wien ist er gegangen, schon von dem Dämon dieses inneren Zwiespaltes getrieben.
Die Wurzeln seiner alten Macht, die fast alle im Bürgertum lagen, begannen sich
mit der schärferen Parteientrennung zu lockern; besonders nach dem achtzehnten
September in Frankfurt fühlte er den Boden unter sich schwanken, und in Leipzig
hatte seine bewundernswürdige Gewandtheit und äußere Unerschütterlichkeit ihm
doch nur einen öffentlichen, aber keinen ihm selbst genügenden Triumph über die
ihm dort erwachsenen Gegner verschaffen können. Über die wichtigsten Momente
seines Auftretens in Wien haben wir durchaus mangelhafte Berichte; aber selbst
aus den entstellenden Referaten der Schwarzgelben hörte ich doch die
fürchterliche Aufregung seines Innern durchklingen, da er auch dort nur
denselben Kampf wie in der Heimat wiederfand, zu desto größrer Pein für seine
Seele, als er seit Jahren an behaglichen ungestörten Machtbesitz gewohnt, nun
in so neues widerwärtiges und doch unvermeidliches Ringen um seine politische
Ehre und Existenz geschleudert war. Reichstag oder Proletariat und Republik?
Nationalgarde oder Aula?! – als er endlich an der Sophiebrücke im Kugelregen
stand, wird er seine Ruhe wiedergefunden haben. Die Rohheit gegen einen
Sterbenden, welche die Verleumdung ihm zuschrieb („Schießt den kroatischen Hund
tot!“) diese Worte sind nicht über seine Lippen gekommen. Wer ihn kannte, weiß
es auch ohne die nachgefolgte Berichtigung, wie mitleidig er gesagt hat:
Erbarme sich doch einer von Euch über den unglücklichen Menschen und gebe ihm
den Tod!
Nachher das Sterben ist ihm schwer
geworden. Wie schwer, begreifen ganz wohl nur die Wenigen, die von seinem
jahrelangen unscheinbaren – und allzeit uneigennützigen – Dienste der Freiheit
mehr wissen als in den Lebensbeschreibungen zu finden ist. Schon ehe die
Augusttage in Leipzig seinen Namen durch ganz Deutschland trugen, war er der
Mittelpunkt und Vermittler der liberalen Bestrebungen in Deutschland; seine
Verbindungen und Hilfsquellen reichten sehr weit. Als einer der Vertrautesten
ihm das Manuskript der Wiener Konferenzbeschlüsse, so viel er wußte das einzige
in liberalen Händen, überschickte und wegen der Möglichkeit der
Veröffentlichung anfragte, besaß Blum sie schon in einer andren Kopie und hatte
sie schon in Straßburg und NewYork drucken lassen – zur Zeit, wo er noch im
Leipziger Stadttheater an der Kasse saß.
Menschenkenntniß besaß er nicht
viel, aber im höchsten Grade Kenntnis der Massen, und mehr als das: überhaupt
den Instinkt, die allgemeine Tendenz einer Versammlung herauszufühlen und ihre
Stimmung zu treffen. In Frankfurt war in den ersten Tagen des Parlaments, als
die Parteienbildung begann, eine ziemlich gemischte Versammlung im Holländischen
Hof, wo man sich „erst kennen lernen“ wollte. Centrumsmänner und Republikaner
hatten abwechselnd mit einem Beifall gesprochen und spezielle Pläne diskutiert,
der es ganz ungewiß machte, wohin die Mehrheit sich neigen möchte. Blum erhob
sich, verwarf keinen einzelnen Vorschlag, sondern alle zusammen, und exponierte
die allgemeine Richtung der Partei, wie er sie wünsche, mit solcher
Virtuosität, daß man hätte sagen sollen, er offenbare Allen erst die
Hauptsache, in der sie eines Sinnes seien und von der sie doch noch nicht
geredet hätten. – Dies Vermittelnde, Conciliatorische, dieser Instinkt, wie
weit die entscheidenden Massen, sei es des Volks oder der Bourgeoisie, in einem
gegebnen Falle gehen würden, hatte sich in seinem sächsischen Wirkungskreise in
vollem Maß bewährt. Für unsre Revolution genügte es nicht mehr; im Gegenteil
verdächtigte es ihn, daß er nach beiden Seiten so weit hin die Hand reichen
konnte.
Seine Persönlichkeit, so ganz aus
Einem Guß, machte es allerdings schwer, ihn in dieser Beziehung anzugreifen;
sie machte manchen doch wieder irre in der verwerfenden Kritik. Das Resultat
dieses Schwankens war aber, daß seine Gegner ihn endlich, an der tieferen
Erklärung verzweifelnd, für einen geschickt berechnenden Intriganten und nichts
weiter erklärten. Man wird in allen Zeitungscorrespondenzen jener ersten Monate
die Verlegenheit der Beobachter sehen; alle vermuten, daß noch etwas hinter ihm
stecke, keiner wagt zu entscheiden, was es denn eigentlich sei und wen man vor
sich habe. – Einzelne wollten damals, wie schon früher, etwas Lauerndes in ihm
bemerken; ich las etwas andres in seinem Auge und seinem ganzen Wesen. Etwas
von Triumph und Hoffnung! Es war zuweilen, als spiele er nur mit den Dingen,
als belustige seine Phantasie sich an diesen kleinlichen Kämpfen und
Vorbereitungen auf größere Dinge. Die Schöpfung der Zentralgewalt gab dieser
Sicherheit den ersten Stoß, ich hörte es an einem sehr seltnen Ton seiner
Stimme, den ich nur zweimal vernommen habe, so oft ich ihn auch öffentlich und
im Privatleben reden hörte. Ein Ton, der aus dem tief erregten Seelengrunde
hervor, die glatte Oberfläche mächtig zerbrach.
Das erste Mal in Leipzig im
Privatkreise. Ein günstiger Zufall hatte mich gerade den Abend zu Blum geführt,
wo die sächsische Partei vor der Abreise zum Vorparlamente die in Frankfurt und
weiterhin zu befolgende Politik beriet. Es war eine kleine Gesellschaft, die
das Wohnzimmer des Hauses bequem faßte, aber die Meinungen zu vereinigen,
schien sehr schwer. Detaillierte Feldzugspläne wurden entwickelt, Einzelheiten
riefen sehr abschweifende Debatten hervor, hartnäckige Wiederholungen waren
häufiger als ausgleichendes Verständigen, und so waren nach einem frugalen
Abendbrot die nächtlichen Stunden eine um die andre verflogen und eine unerfreuliche
Zersplitterung schien das einzige Resultat zu sein. – Blum, der am oberen Ende
des Tisches sein Ehrenrecht des Präsidiums bisher kaum dann und wann ausgeübt
und selbst eigentlich noch gar nicht gesprochen hatte, pochte plötzlich auf den
Tisch und ergriff das Wort, rasch, kurz und heftig; es war wie die Szene im
Fiesko, wo mit Einmal der Führer und Feldherr der Verschwornen sich unter ihnen
aufrichtet. Die Tat und nichts als die Tat, der er voranging, war der Ton
dieser Worte; es grollte etwas wie Zorn über die unnützen Hindernisse, die eben
diesen Weg ihm versperren wollten, in seiner Stimme. Und doch ergreift mich
wieder mit tiefer Rührung das Bild, wie seine Schwester, halb seitwärts hinter
seinem Stuhle lehnend, so zärtlich stolz auf den geliebten Bruder herabsah!
Das zweite Mal war es im Parlament,
in seiner Rede über die Zentralgewalt. Die Rede floß wie die gewöhnlichen,
eintönig hin und hielt sich in den allgemeinen Gründen gegen die
Unverantwortlichkeit; aber in der Brust des Redners quoll unter diesem ebnen
Strome das Gefühl empor, daß die Verantwortlichkeit der Nerv der Freiheit sei,
das Erbteil des Volks, die Ehre des Republikaners! Daß mit der
Unverantwortlichkeit der erste Grundstein zu dem kaum gebrochenen
Zwingdeutschland wieder gelegt, und seine Hoffnungen, auch seine persönlichen,
wie eine Wolke fern verschwinden würden vor dem Einzuge der alten Macht. Das
Wort vom „brechenden Himmelsauge der Freiheit,“ das vielverhöhnte, sprach er
noch halb im alten Kanzelton, aber am Schluß brach jenes unausgesprochene
bittre Gefühl überwältigend aus in die mit vollem Haß und Ingrimm
hingeschleuderten halb verschluckten Worte: „so schaffen Sie Ihre Diktatur!“ Es
war, als streckte er zum ersten Mal die Löwenklaue hervor.
Doch sein ursprünglich
sanguinisches Temperament, in dieser Zeit besonders lebhaft unter dem
angewohnten Phlegma durchscheinend, wiegte ihn bald wieder in Hoffnungen ein.
War es denn möglich, daß Gagern, der eben damals den kühnen demokratischen
Griff getan, ihn nur zum Vorteil der Fürsten getan haben sollte oder wollte?
Und würden die Fürsten, die doch beleidigt waren, diesen Vorteil auch nur
erkennen? Mußte also die neue Zentralgewalt, um sich den eifersüchtigen Fürsten
gegenüber zu halten, nicht notwendig populär auftreten und Konzessionen an die
Linke machen? Damals erschien dieser Gedankengang eben so vernünftig, wie er
uns jetzt ein trauriges Lächeln ablockt. In ihm bewegte sich Blum und war guten
Mutes.
Eines Abends, kurz vor der Ankunft
des Reichsverwesers, begegnete ich ihm auf dem Rückweg in seine Wohnung. Wir
gerieten in ein so eifriges Gespräch, daß wir obwohl es ziemlich spät war, noch
in eine Gaststube traten und dort in einer ungestörten Ecke es fortsetzten.
„Nun, sagte er, „es treten jetzt zwei Möglichkeiten ein, entweder ein Johann
von Gagerns Gnaden, oder – wenn das nicht, gleich Gagern allein hinterdrein.
Für uns ist das ziemlich gleichbedeutend, wenn mir ein Ministerium
angeboten würde, soll man das annehmen?“ Ich erwiderte ihm: „Unbedingt!“ – und
wie ich schon damals um seine schwankende Stellung besorgt war, leitete ich
gleich darauf über, wie sein Verhältnis zu der Linken sich dann gestalten
müsse. „Ja“, sagte er ganz seelenruhig, „daß man in dies Ministerium nur
eintritt, um es nachher bei Gelegenheit sprengen zu können, das versteht sich
von selbst.“ – Wir gingen noch auf Kombinationen ein, und meine
Bedenklichkeiten gegen sein bisheriges Auftreten hörte er mit jenem ernsten
Interesse an, das ich an ihm, den mit Lob so verwöhnten von jeher sehr hoch
geachtet hatte. – Dann begleitete ich ihn nach Haus, und da wir oben auf seinem
Zimmer noch Stimmen hörten, folgte ich seiner Einladung und wir fanden einige
Freunde in lebhaftem Für und Wider über Gagern und den Charakter seines kühnen
Griffs. Nur allzu sehr bewährte Meinungen wurden schon damals ausgesprochen.
Blum hatte sichs bequem gemacht und lag halb träumend im Sopha; als aber ein
geringschätziges Wort über Gagerns Rednergabe fiel, widersprach er eifrig. „O“,
sagte er, „Du hast ihn noch nicht ganz gesehn! Wenn der Gagern erst gereizt
wird, dann wird er erhaben. Wie hat er im Vorparlament die Linke wahrhaft
zermalmt!“ Und unbeirrt von allen Einwendungen überließ der Volksredner sich
ganz der Lust, den Parlamentsredner mit einigen Freskozügen zu schildern. –
„Sehn wir uns morgen?“ – „Nein“, erwiderte Blum, „ich fahre nach Homburg, und
ich muß dorthin. Es ist hier ein kleines verwaistes Mädchen, eine
ausgezeichnete Klavierspielerin, für die will ich da ein Concert
zusammenbringen. – Sie heißt Märrder, Marie, wenn Sie das auch
wissen wollen.“
Am nächsten Tage begegnete ich ihm,
wie er mit seiner kleinen Klientin und einer Verwandten nach Homburg fuhr.
Dreiviertel Jahre nachher brachte mich der Zufall unter mehrere
Parlamentsabgeordnete der Gagernschen Partei; es war an öffentlicher
Gasthaustafel, und einer dieser Herren erzählte als einen Beitrag zur
Charakteristik der Linken: Blum habe, obwohl Familienvater, doch in Frankfurt
mit zwei Maitressen gelebt und sei sogar öffentlich mit ihnen
spazierengefahren! – Blum war längst tot, seine Freunde glücklicherweise noch
nicht, und ich dankte dem Zufall, der mich in den Stand setzte, die beschämende
Erklärung dieser Verleumdung zu geben.
Im April hatte er mir gesagt: „Nun,
in sechs Monaten haben wir doch die Republik.“ Im Sommer erinnerte ich ihn
einmal scherzend daran. „O, erwiderte er, ich habe noch bis zum November Zeit!“
Theodor Althaus erinnert sich: Aus dem Gefängniß. Deutsche Erinnerungen und Ideale.
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